Verkehrsordnungswidrigkeiten – Teil 09 – Absehen vom Fahrverbot I

4.4.3 Absehen vom Fahrverbot trotz Vorliegen der Voraussetzungen

Unter gewissen Gegebenheiten kann es angemessen sein, kein Fahrverbot zu erteilen, obwohl dies im Bußgeldkatalog bei einer bestimmten Ordnungswidrigkeit als Rechtsfolge mit aufgeführt ist. Das ergibt sich insbesondere daher, dass die im Bußgeldkatalog festgelegten Sanktionen sich an bestimmten Regelfällen einer Ordnungswidrigkeit orientieren. In der Praxis gibt es deshalb oft Fälle in denen Sanktionen wie das Fahrverbot zu dem tatsächlich begangenen Verstoß nicht passen oder nicht angemessen erscheinen.

Typischerweise sind das zum Beispiel folgende Fälle:

  • Wenn sich herausstellt, dass die Ordnungswidrigkeit nicht dem im Bußgeldkatalog aufgeführten Regelverstoß entspricht (vgl. unten Punkt 4.4.3.1).
  • Ein Fahrverbot erscheint in dem Einzelfall nicht angemessen (vgl. unten Punkt 4.4.3.2).
  • Die Erteilung eines Fahrverbotes stellt für den Betroffenen eine unverhältnismäßige Härte dar (vgl. unten Punkt 4.4.3.1).


4.4.3.1 Ordnungswidrigkeit entspricht nicht dem Regelfall

Begeht man eine Verkehrsordnungswidrigkeit für die im Bußgeldkatalog ein Fahrverbot vorgesehen ist, kann von der Verhängung des Fahrverbots abgesehen werden, wenn die tatsächlich begangene Tat von dem Regelfall abweicht und atypisch ist. So liegt zum Beispiel kein Regelfall vor, wenn bei einer Ordnungswidrigkeit die im Bußgeldkatalog ein Fahrverbot vorsieht, weil es sich um einen grundsätzlich gefährlichen Verstoß handelt, im Einzelfall eine Gefährdung anderer offensichtlich ausgeschlossen ist. Das bedeutet der Verstoß entspricht nicht dem dortigen Regelfall. Dasselbe Ergebnis ergibt sich bei Ordnungswidrigkeiten die nicht dem Regelfall für ein Fahrverbot entsprechen, weil objektiv gesehen kein so schwerer Verstoß - wie der Regelverstoß- vorliegt. Typisch sind hier die Fälle der atypischen Rotlichtverstöße, wie etwa beim "Anhängen" an den Vordermann an einer Baustellenampel, wenn keine Gefährdung des entgegenkommenden Verkehrs besteht (OLG Düsseldorf, 27.09.1994, Az.: 5 Ss (OWi) 299/94 und (OWi) 161/94; OLG Koblenz, 25.05.2001, Az.: 2 Ss 136/01).

Beispiel
Autofahrer A befährt eine Bundesstraße und nähert sich einer Baustellenampel ohne Haltelinie. Diese Baustellenampel zeigte beim Eintreffen des A seit mehreren Sekunden Rotlicht, weshalb ein anderer PKW vor der Ampel auf der rechten Fahrbahnseite seit mehreren Sekunden steht. Da A in eine Seitenstraße einbiegen will, die genau auf Höhe der Baustellenampel nach rechts abgeht, umfährt er kurzerhand auf der linken Fahrbahnseite den bereits vor dem Rotlicht haltenden PKW und biegt auf Höhe der Ampel nach rechts ab. Dabei missachtet er das Rotlicht ohne allerdings den Gegenverkehr zu behindern oder zu gefährden.

  • A hat einen qualifizierten Rotlichtverstoß begangen, da die Ampel bereits mehrere Sekunden Rotlicht anzeigte, bevor er losfuhr. Allerdings kann bei der Ahndung von dem im Bußgeldkatalog festgesetzte Regelfahrverbot abgesehen werden, da ein sogenannter atypischer Rotlichtverstoß vorliegt: Der Verhängung eines Fahrverbotes bedarf es in diesem Fall nicht, da nicht von einem besonders schwerwiegenden Rotlichtverstoß auszugehen ist. Zwar zeigte die Ampel bereits länger als eine Sekunde Rotlicht, aber der Grundgedanke der verschärften Regelahndung eines Rotlichtverstoßes, der den Schutz des Querverkehrs bezweckt, greift hier nicht. Denn, die Ampel deren Rotlicht A missachtet hat, war hier ausschließlich zur Regelung des Verkehrs im nur einspurig befahrbaren Baustellenbereich eingerichtet. Eine konkrete Gefährdung des Gegenverkehrs bestand nicht, weshalb von der Anordnung eines Fahrverbots abgesehen werden kann (OLG Hamm, 06.02.2007, Az.: 4 Ss OWi 740/06).

Daneben kann das Vorliegen eines Regelfalls für ein Fahrverbot aber auch deshalb verneint werden, weil aus subjektiver Sicht keine schwerwiegende Pflichtverletzung vorlag: So etwa, bei dem sogenannten Augenblickversagen, wenn man als Fahrzeugführer einen Fehler begeht, der auch den sorgfältigsten Verkehrsteilnehmern einmal passieren kann und der nicht auf grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit beruht (BGH, 11.09.1997, Az.: 4 StR 638/96).

Beispiel
Der Autofahrer A wird innerorts in einer 30er Zone mit einer Geschwindigkeit von 69 km/h geblitzt. Hiervon wurden 3 km/h als Messtoleranz in Abzug gebracht. A erklärt er habe nicht gewusst, dass es sich in dem Teilbereich der Straße in der er geblitzt wurde, um eine 30er Zone handelte. Die Verkehrszeichen zur Geschwindigkeitsbegrenzung konnte er nicht sehen, weil auf einem rechts von der Fahrbahn befindlichen Parkplatz ein LKW stand und diese Verkehrszeichen verdeckt waren.

  • A hat die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 36 km/h innerhalb geschlossener Ortschaft überschritten und damit einen fahrlässiger Geschwindigkeitsverstoß begangen. Ein Fahrverbot, wie es im Bußgeldkatalog bei einem solchen Verstoß vorgesehen, ist hier allerdings nicht zu verhängen: Das Übersehen eines einzigen Verkehrsschilds ohne Umstände, aufgrund derer sich dem Betroffenen die Geschwindigkeitsbeschränkung aufdrängen musste, ist nämlich keine grobe Pflichtverletzung bei der die Anordnung eines Fahrverbots zu erfolgen hat. Es handelt sich hier um ein Augenblickversagen, dass nur den Vorwurf leichter Fahrlässigkeit begründet (OLG Hamm, 21.12.2007, Az.:3 Ss OWi 315/07).


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Ordnungswidrigkeiten im Verkehr“ von Michael Kaiser, Rechtsanwalt, und Kristin Nözel, Volljuristin Dipl. jur. (Univ.), juristisch Fachautorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-84-7.


Kontakt: kaiser@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2018


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