Kündigungsschutz und Kündigungsschutzklage – Teil 19 – Besonderer Kündigungsschutz schwerbehinderter Arbeitnehmer

7 Besonderer Kündigungsschutz schwerbehinderter Arbeitnehmer

Es besteht weiter ein besonderer Kündigungsschutz schwerbehinderter Arbeitnehmer.
Nach § 85 SGB IX erfordert die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Der besondere Kündigungsschutz ist insofern präventiver Art. Die vorherige Kontrolle der Kündigung durch das Integrationsamt soll der Benachteiligung schwerbehinderter Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt entgegenwirken und für ein Gleichgewicht im Wettbewerb mit Nichtbehinderten sorgen.[1] Des Weiteren sollen sich Arbeitgeber ihrer sozialpolitisch orientierten, auferlegten Pflicht zur Eingliederung schwerbehinderter Arbeitnehmer nicht einfach durch Kündigungen entledigen können.[2]
Dementsprechend ist die vorherige Zustimmung des Integrationsamtes als Wirksamkeitsvoraussetzungen zu sehen.[3] Fehlt diese ist die ausgesprochene Kündigung gem. § 134 BGB nichtig.

7.1 Geltungsbereich

7.1.1 Geschützte Personen

Der präventive Kündigungsschutz nach § 85 SGB IX gilt grundsätzlich für alle Personen die sich innerhalb eines wirksamen Arbeitsverhältnisses befinden sowie nach § 2 II SGB IX schwerbehindert sind. Dies umfasst sowohl Arbeitnehmer, als auch Auszubildende sowie Heimarbeiter gemäß der Verweisung aus § 127 II S. 2 SGB IX.[4] Arbeitnehmerähnliche Personen werden hingegen nicht umfasst.[5]
Schwerbehindert sind nach § 2 II SGB IX Personen, die einen Grad einer Behinderung von mindestens 50 haben sowie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung rechtmäßig im räumlichen Geltungsbereich des SGB IX haben. Die Schwerbehinderteneigenschaft entsteht somit kraft Gesetzes wenn die Voraussetzungen nach § 2 II SGB IX vorliegen.[6] Der Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes nach § 69 I SGB IX hat hingegen eine rein deklaratorische, also erklärende, jedoch keine rechtsbegründende Wirkung.[7]
Der Kündigungsschutz nach § 85 SGB IX besteht weiter auch für Personen die schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen. Dies umfasst nach § 2 III SGB IX behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen aus § 2 II SGB IX vorliegen und die aufgrund ihrer Behinderung oder ohne die Gleichstellung keinen geeigneten Arbeitsplatz erhalten oder ihren derzeitigen weiter behalten können.[8] Diese Gleichstellung findet durch eine Feststellung gem. § 69 SGB IX auf Antrag des Betroffenen statt.[9]
Weiter besteht der präventive Kündigungsschutz für Schwerbehinderte unabhängig der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer im Betrieb, des Alters des Betroffenen oder des Umfangs des Arbeitszeitvolumens.[10]

7.1.2 Ausnahmen

Allerdings benennt § 90 SGB IX einige Ausnahmen, die Betroffene vom geschützten Personenkreis ausnehmen. In diesen Fällen findet § 85 SGB IX keine Anwendung was die Zustimmung des Integrationsamtes entbehrlich macht.

7.1.2.1 Fehlende Wartezeit

Eine Ausnahme stellt die fehlende Wartezeit dar. Insofern gilt der besondere Kündigungsschutz gem. § 90 I Nr. 1 SGB IX nicht für schwerbehinderte Personen deren Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt der Kündigung ununterbrochen noch nicht länger als sechs Monate besteht. Entscheidend ist hierbei der Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung.[11] Ein vorheriges Arbeitsverhältnis bei demselben Arbeitgeber kann angerechnet werden, sofern ein enger sachlicher Zusammenhang mit dem neuen Arbeitsverhältnis besteht.[12]

7.1.2.2 Bestimmte Arbeitsplätze

Des Weiteren normiert § 90 I Nr. 2 SGB IX eine Ausnahme aus dem Sonderkündigungsschutz von bestimmten Beschäftigten. Demnach gilt der Kündigungsschutz nicht für schwerbehinderte Menschen die auf Stellen im Sinne des § 73 II Nr. 2 - 5 SGB IX beschäftigt werden.
Ausnahmen stellen folglich schwerbehinderte Menschen dar,

  • deren Beschäftigung nicht in erster Linie ihrem Erwerb dient, sondern vorwiegend durch Beweggründe karitativer oder religiöser Art motiviert ist sowie Geistliche öffentlich-rechtlicher Religionsgemeinschaften,
  • deren Beschäftigung nicht in erster Linie ihrem Erwerb sondern vorwiegend ihrer Heilung, Wiedereingewöhnung oder Erziehung dient,
  • die an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach den SGB III teilnehmen,
  • sowie die nach ständiger Übung in ihre Stellen gewählt werden.


[1] Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen, § 85 SGB IX, Rn. 2.

[2] Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen, § 85 SGB IX, Rn. 2.

[3] Gallner/Mestwerdt/Nägele/Fiebig/Osnabrügge, §§ 85-92 SGB IX, Rn. 1.4 Gallner/Mestwerdt/Nägele/Fiebig/Osnabrügge, §§ 85-92 SGB IX, Rn. 2.

[5] Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen, § 85 SGB IX, Rn. 7.

[6] Gallner/Mestwerdt/Nägele/Fiebig/Osnabrügge, §§ 85-92 SGB IX, Rn. 3.

[7] Gallner/Mestwerdt/Nägele/Fiebig/Osnabrügge, §§ 85-92 SGB IX, Rn. 3.

[8] Gallner/Mestwerdt/Nägele/Fiebig/Osnabrügge, §§ 85-92 SGB IX, Rn. 4.

[9] Gallner/Mestwerd/Nägele/Fiebig/Osnabrügge, §§ 85-92 SGB IX, Rn. 4.

[10] Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen, § 85 SGB IX, Rn. 6f.

[11] Gallner/Mestwerdt/Nägele, §§ 85-92 SGB IX, Rn. 6.

[12] BAG 19.6.2007 – 2 AZR 94/06 – AP § 1 KSchG 1969 Wartezeit Nr. 23.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Kündigungsschutz und Kündigungsschutzklage“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Paulina Zoe Linke, wissenschaftliche Mitarbeiterin, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-76-2.


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Stand: Januar 2017


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Tilo Schindele, Rechtsanwalt

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Seit 2001 unterrichtet er „Grundzüge im Arbeits- und Insolvenzrecht".

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  • Arbeitnehmerüberlassung, Tilo Schindele und Patricia Netto, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-55-7
  • Die internationale Entsendung von Mitarbeitern, Tilo Schindele und Babett Stoye, LL.B., 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-57-1

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