Kündigungsschutz und Kündigungsschutzklage – Teil 12 – Unternehmerische Entscheidung, keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, soziale Auswahl

4.2.7.3.1 Unternehmerische Entscheidung

Die dringenden betrieblichen Voraussetzungen benötigen grundsätzlich einer unternehmerischen Entscheidung.

4.2.7.3.1.1 Inhalt der Unternehmerentscheidung

Dabei kann es sich inhaltlich sowohl um gestaltende, unternehmerische Entscheidungen, als auch um selbstbindende Unternehmerentscheidungen handeln.
Eine gestaltende Unternehmerentscheidung ist auf eine Veränderung in der innerbetrieblichen Organisation gerichtet.[1] Das umfasst vor allem die Bestimmung des Unternehmensziels, die Festlegung des Betriebsortes, der Größe des Betriebs sowie seine Ausstattung und Organisation.[2]
Die selbstbindende Unternehmerentscheidung macht die Zahl der benötigten Arbeitskräfte hingegen direkt vom Arbeitsaufkommen ab und will den Personalstand lediglich an dieses anpassen.[3]

4.2.7.3.1.2 Ursache der Unternehmerentscheidung

Die Unternehmerentscheidung kann weiter auf verschiedenen Ursachen beruhen. Hierbei wird zwischen inner- und außerbetrieblichen Ursachen differenziert.

Innerbetriebliche Ursachen umfassen regelmäßig die Änderung oder Einführung neuer Fertigungsmethoden, organisatorische Veränderungen wie die Vergabe von Aufgaben an Fremdfirmen oder Rationalisierungsmaßnahmen. Sie fallen oft mit der gestaltenden Unternehmerentscheidung zusammen.[4]
Auftragsmangel, fehlender Umsatz oder die Veränderung der Marktstruktur zählen zu den außerbetrieblichen Ursachen.[5] Daraus kann sowohl eine selbstbindende, allerdings auch eine gestaltende Unternehmerentscheidung als Reaktion folgen.
Die Gerichte haben dabei voll nachzuprüfen, ob diese Ursachen tatsächlich existieren und pb sie für die getroffene Maßnahme wirklich ursächlich sind.[6]

4.2.7.3.1.3 Gerichtliche Kontrolle

Im Hinblick auf Art. 12 I, 14 GG unterliegt die Unternehmerentscheidung nur einer eingeschränkten, gerichtlichen Kontrolle.
Die gerichtliche Kontrolle durch das BAG umfasst nicht ob die Entscheidung durch den Unternehmer notwendig oder sinnvoll ist. Vielmehr ist sie nur auf offensichtliche Unsachlichkeit, Unvernunft oder Willkür zu überprüfen.[7]
Offenbar unsachlich sind z.B. Entscheidungen die gegen Gesetze oder Tarifverträge verstoßen oder zur Umgehung dessen dienen.[8]
Wesen die Entscheidungen keinen wirtschaftlichen oder unternehmensstrategischen Sinn auf, sind sie zum Beispiel offensichtlich unvernünftig.[9]
Willkür liegt hingegen vor, wenn der Entscheidung keine sachlichen Erwägungen zu Grunde liegen.

4.2.7.3.1.4 Auswirkungen auf die Beschäftigungslage

Die unternehmerische Entscheidung muss sich weiter unmittelbar oder mittelbar negativ auf den Bedarf an Arbeitnehmern auswirken. Die Umsetzung der Entscheidung muss somit spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Arbeitsplatzes münden.[10]
Diese Prognose muss mithin objektiv berechtigt sein.[11]

4.2.7.3.1.5 Darlegungs- und Beweislast

Die Darlegungs- und Beweislast obliegt nach § 1 II S. 4 KSchG dem Arbeitnehmer. Er hat demnach die tatsächlichen Voraussetzungen zur Annahme eines betrieblichen Erfordernisses und die Ursache seiner unternehmerischen Entscheidung darlegen.

4.2.7.3.2 Keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit

Es darf erneut keine Möglichkeit der Weiterbeschäftigung vorhanden sein (--> 7.2.7.1.3).

4.2.7.3.3 Soziale Auswahl

Steht fest, dass dringende betriebliche Erfordernisse den Wegfall einiger Arbeitsplätze bedingen, hat der Arbeitgeber eine Sozialauswahl durchzuführen, d.h.:

  • Es sind alle Arbeitnehmer zu ermitteln die bei der Auswahl in Frage kommen,
  • diese sind anhand von sozialen Kriterien in eine Reihenfolge zu bringen, und
  • schließlich können bestimmte Arbeitnehmer aus der Auswahl ausgeschlossen werden.[12]

Für die Frage welche Arbeitnehmer in Frage kommen ist auf den Zeitpunkt der beabsichtigen Kündigungen abzustellen. Etwaige Prognosen sind hier nicht zu stellen.[13]
Der auswahlrelevante Personenkreis ist aus allen vergleichbaren Arbeitnehmern des gesamten Betriebes zu bilden.[14] Die Vergleichbarkeit ergibt sich dabei aus ihren Fähigkeiten, Kenntnissen und Qualifikationen sowie nach dem Vertragsinhalt. Der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsplatz wegfällt, muss mit einem anderen auszutauschen sein.[15] Dabei ist auch auf die arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeiten zu achten.

Beispiel:
Der Arbeitsplatz von Arnold in der Redaktion der „Deichpost“ beim Verlagsbetriebs Kümmel fällt betriebsbedingt weg. Arnold hat einen alten Arbeitsvertrag der die Leistungspflicht auf die „Deichpost“ beschränkt.

  • Die Leistungspflicht ist auf diesen bestimmten Arbeitsplatz begrenzt. Die Auswahl der vergleichbaren Arbeitnehmer verkleinert sich dementsprechend auf Arbeitnehmer am gleichen Arbeitsplatz. Auch wenn zum Verlagsbetrieb Kümmel noch andere Zeitschriften gehören begrenzt sich die Auswahl auf vergleichbare Arbeitnehmer die für die „Deichpost“ tätig sind.[16]

Nicht in Frage kommen Arbeitnehmer ohne Kündigungsschutz, die also nicht mindestens sechs Monate beschäftigt sind[17] oder die besonderen Kündigungsschutz genießen[18]. Anderes gilt, wenn der besondere Kündigungsschutz in einem Zustimmungserfordernis liegt und die Zustimmung von der Behörde bereits erteilt wurde.[19]

Wurde der auswahlrelevante Personenkreis ermittelt ist anhand von sozialen Gesichtspunkten eine Art Rangordnung zu bilden. Nach § 1 III S. 1 KSchG sind dabei

  • die Dauer der Betriebszugehörigkeit,
  • das Lebensalter,
  • etwaige Unterhaltspflichten
  • sowie eine mögliche Schwerbehinderung zu berücksichtigen.

Bei der Dauer der Betriebszugehörigkeit ist im Allgemeinen auf die Dauer der arbeitsvertraglichen Bindung zu und ein und demselben Arbeitgeber abzustellen.[20] Dabei sind auch Zeiten innerhalb der Berufsausbildung einzubeziehen.[21] Relevant ist einzig und allein, dass keine rechtliche Unterbrechung bestand.
Das Merkmal des Lebensalters trägt der Situation auf dem Arbeitsmarkt Rechnung, die mit zunehmendem Alter schwieriger wird.[22] Durch die herrschende Einstellungspraxis sind die Möglichkeiten eine erneute Beschäftigung zu finden für ältere Arbeitnehmer eher begrenzt.
Weiter ist zu berücksichtigen ob der jeweilige Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Kündigung Unterhaltspflichten hat. Davon werden keine freiwilligen Unterhaltspflichten erfasst.[23] Dieses Merkmal resultiert aus der Tatsache, dass ein unterhaltspflichtiger Arbeitnehmer in größerem Maße abhängig vom Erhalt seines Arbeitsplatzes ist.
Als letztes Merkmal fungiert die Schwerbehinderung. Weitere soziale Kriterien sind nicht zulässig.[24]

Zur besseren Übersichtlichkeit und Transparenz sollte der Arbeitgeber bei der Berücksichtigung der sozialen Kriterien von einem Punkteschema ausgehen. Nach § 1 III S. 1 KSchG kann der Arbeitnehmer die Mitteilung der Gründe zur getroffenen Sozialauswahl verlangen. Ein Punkteschema würde die Gewichtung der Kriterien darlegen und die Nennung der Gründe vereinfachen. Das Punkteschema unterliegt nach § 95 I BetrVG dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates, sofern ein Betriebsrat vorhanden ist.[25] Grundsätzlich ist kein bestimmtes Punkteschema oder die Art der Berücksichtigung vorgeschrieben sondern unterliegt dem Wertungsspielraum des Arbeitgebers.
Das BAG hat z.B. folgende Auswahlrichtlinie akzeptiert[26]:
Lebensalter --> 1 Punkt/Lebensjahr (max. 59 Punkte)
Betriebszugehörigkeit --> 2 Punkte/Beschäftigungsjahr
Unterhaltspflichten --> 10 Punkte/Kind und 5 Punkte/andere unterhaltsberechtigte Person
Schwerbehinderung --> 10 Punkte/Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung

Hat der Arbeitgeber die Sozialauswahl absolviert, kann er weniger schutzbedürftige Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl rausnehmen, wenn dies auf Grund ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur im berechtigten betrieblichen Interesse liegt.[27] Eine ausgewogene Personalstruktur ist z.B. gefährdet, wenn lediglich einer bestimmten Altersgruppe gekündigt wird.
Die Tatsachen, die für die betrieblichen Interessen sprechen, hat der Arbeitgeber, im Kündigungsschutzprozess, darzulegen und zu beweisen.[28] Das betriebliche Interesse muss aus konkreten Belangen zu bilden sein.[29]

Beispiel:
In der Sozialauswahl des Arbeitgebers Kühn erscheint seine Sekretärin Vogel am wenigsten schutzbedürftig. Der Betrieb von Kühn agiert regelmäßig im Ausland und ist auf eine reibungslose Kommunikation angewiesen. Vogel spricht mehrere Fremdsprachen fließend.

  • In diesem Fall könnte die störungsfreie Kommunikation im Ausland als betriebliches Interesse in Betracht kommen. Die entsprechenden Fremdsprachenkenntnisse von Vogel könnten im Einzelfall eine Herausnahme aus der Sozialauswahl rechtfertigen.

[1] Stahlhacke/Preis/Vossen/Preis, Rn. 912.

[2] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 454.

[3] Stahlhacke/Preis/Vossen/Preis, Rn. 912.

[4] Stahlhacke/Preis/Vossen/Preis, Rn. 914.

[5] Stahlhacke/Preis/Vossen/Preis, Rn. 915.

[6] Vgl. BAG 20.6.2013, NZA 2014, 208; BAG 20.6.2013 – 2 AZR 380/12.

[7] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 455.

[8] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 458.

[9] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 460.

[10] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 467.

[11] BAG 31.7.2014, NZA 2015, 101.

[12] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 592.

[13] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 595.

[14] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 597.

[15] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 607.

[16] BAG 16.2.2000, NZA 2000, 822: Keine Einbeziehung anderer Redaktionen eines Verlagsbetriebes, wenn der Arbeitnehmer für eine bestimmte Zeitschrift eingestellt wurde.

[17] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 619.

[18] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 622.

[19] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 623.

[20] BAG 2.6.2005, NZA 2005, 1175.

[21] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 633.

[22] BAG 18.1.1990, AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 19; BAG 12.4.2011, NZA 2011, 988; BAG 26.5.2009, NZA 2009, 849.

[23] BAG 12.8.2010, NZA 2011, 460.

[24] BAG 31.5.2007, NZA 2008, 33.

[25] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 660.

[26] BAG 12.3.2009, NZA 2009, 1023.

[27] Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG, Rn. 666.

[28] Vgl. BAG 5.6.2008, NZA 2008, 1120.

[29] ErfK/Oetker, § 1 KSchG, Rn. 348.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Kündigungsschutz und Kündigungsschutzklage“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Paulina Zoe Linke, wissenschaftliche Mitarbeiterin, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-76-2.


Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2017


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Tilo Schindele, Rechtsanwalt

Portrait Tilo-Schindele

Rechtsanwalt Tilo Schindele ist seit 20 Jahren im Arbeitsrecht tätig.
Er prüft, erstellt und verhandelt unter anderem

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  • Kündigungen
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  • Lohn- und Gehaltsansprüche
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und berät und vertritt Betriebsräte.

Rechtsanwalt Schindele ist Dozent an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart.
Seit 2001 unterrichtet er „Grundzüge im Arbeits- und Insolvenzrecht".

Rechtsanwalt Tilo Schindele hat veröffentlicht:

  • Arbeitnehmerüberlassung, Tilo Schindele und Patricia Netto, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-55-7
  • Die internationale Entsendung von Mitarbeitern, Tilo Schindele und Babett Stoye, LL.B., 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-57-1

Rechtsanwalt Tilo Schindele bereitet derzeit folgende Veröffentlichungen vor:

  • Arbeitnehmer und Scheinselbständigkeit

Rechtsanwalt Tilo Schindele ist Dozent für Arbeitsrecht an der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.
Er bietet Schulungen, Vorträge und Seminare zum Thema:

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