Kartellrecht – Eine Einführung – Teil 16 – Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher


Autor(-en):
Tilo Schindele
Rechtsanwalt

Constantin Raves
Rechtsanwalt


5.1.4.1.2 Konditionenmissbrauch

Als zweiten Fall des Ausbeutungsmissbrauchs im Sinne des Art. 102 S. 2 lit. a AEUV ist die unmittelbare oder mittelbare Erzwingung unangemessener Geschäftsbedingungen erfasst. Das Verbot gilt gleichermaßen für mächtige Anbieter wie z.B. die Fernsehanstalten[1] sowie für beherrschende Nachfrager wie z.B. die Eisenbahnen[2] oder die Verwertungsgesellschaften.
Für die Voraussetzung der Erzwingung gilt das gleiche wie beim Preismissbrauch. Daher beschränken sich die Erläuterung beim Konditionenmissbrauch auf die Beurteilung der Unangemessenheit der Geschäftsbedingungen.

Für die Beurteilung, ob Geschäftsbedingungen der beherrschenden Unternehmen unangemessen sind, kommt es auf eine umfassende Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Vertragsziele, des Diskriminierungsverbotes (Art. 18 AEUV) und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an.[3] Ebenso sind die Auswirkungen der fraglichen Klauseln auf den Wettbewerb zu berücksichtigen. Je negativer die Auswirkungen der fraglichen Klausel auf das System des unverfälschten Wettbewerbs und das Funktionieren des Marktes sind, desto eher ist die Klausel als unangemessen einzustufen.[4] Zu den unangemessenen Klauseln gehören:

  • Verwendungsbeschränkungen,
  • Kunden- und Gebietsbeschränkungen,
  • Preisbindungen, eine übermäßig lange Vertragsdauer,
  • überhöhte Vertragsstrafen und
  • Ausschließlichkeitsbindungen.

5.1.4.2 Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher (Art. 102 S. 2 lit. b AEUV)

Ein weiteres Regelbeispiel des Missbrauchsverbots ist die Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher. Das Regelbeispiel wird - wie der Begriff des "Verbrauchers" - weit ausgelegt. Er umfasst alle möglicherweise betroffenen Abnehmer des beherrschenden Unternehmens.

Im Wesentlichen geht es bei diesem Regelbeispiel um Fälle des Behinderungsmissbrauchs. Für die Beurteilung, ob das Verhalten schon missbräuchlich oder gerade noch erlaubt ist, kommt es im Einzelfall auf eine umfassende Interessenabwägung an, die sich an dem grundlegenden Ziel der allseitigen Marktöffnung orientiert, wobei der EuGH besonderes Gewicht auf die Verfahren und Mittel eines "normalen Leistungswettbewerbs" legt.[5] Die Folge der Interessenabwägung ist, dass Maßnahmen des Behinderungswettbewerbs im Einzelfall auch gerechtfertigt sein können, insbesondere, wenn sie aus Gründen der Gesundheit oder der Sicherheit, als objektiv notwendig erwiesen oder wenn mit ihnen für die Verbraucher Effizienzvorteile verbunden sind, die die Nachteile der Wettbewerbsbeschränkung aufwiegen.[6]

Eine missbräuchliche Verhaltensweise im Sinne des Art. 102 S. 2 lit. b AEUV liegt vor allem dann vor, wenn das beherrschende Unternehmen das Angebot trotz entsprechender Nachfrage künstlich verknappt, um so die Preise hochzuhalten. Ein entsprechendes Beispiel liegt vor, wenn das beherrschende Unternehmen die Produktion von Ersatzteilen für ältere Modelle einstellt, obwohl nach wie vor eine Nachfrage danach besteht.[7] Ein Missbrauch liegt ebenso vor, wenn das beherrschende Unternehmen Maßnahmen ergreift, die die Erzeugung oder den Absatz anderer Maßnahmen, insbesondere durch Wettbewerbsverbote, Spezialisierungsabkommen, Exportverbote, Verwendungs- oder Vertriebsbindungen sowie durch die Praktizierung ganz restriktiver selektiver Vertriebssysteme, künstlich einschränkt.
Ebenfalls missbräuchlich ist die Einschränkung des technischen Fortschritts zum Schaden der Verbraucher. Dies ist z.B. dann anzunehmen, wenn beherrschende Unternehmen keine neuen, fortschrittlichen Technologien einsetzen oder den Einsatz dieser Technologien bei anderen Unternehmen verhindern.[8]

5.1.4.2.1 Ausschließlichkeitsbindungen

Der wichtigste Anwendungsfall in der Praxis sind von den beherrschenden Unternehmen praktizierte Ausschließlichkeitsbindungen, da sie oftmals zu einer Einschränkung der Erzeugung oder des Absatzes zum Schaden der Verbraucher führen. Zum Verständnis ist es am einfachsten, sich die Konsequenzen solcher Bindungen zu veranschaulichen:

Gelingt es z.B. einem beherrschenden Anbieter, eine erhebliche Zahl von Abnehmern durch Ausschließlichkeitsbindungen an sich zu binden, so werden dadurch den Konkurrenten die Absatzwege verstopft. Entsprechendes gilt im gegensätzlichen Fall der Verpflichtung wichtiger Lieferanten von Vorprodukten zur ausschließlichen Belieferung eines beherrschenden Abnehmers. Als Beispiel kommt die Praxis eines führenden Speiseeislieferanten mit einem Marktanteil von über 40 % in Betracht, der den Händlern die Kühltruhen nur unter der Bedingung zur Verfügung stellt, dass in diesen keine Konkurrenzprodukte gelagert werden dürfen, um diesen den Marktzugang zu versperren.[9]
Als Rechtsfolge des Verbots sind Ausschließlichkeitsbindungen beherrschender Unternehmen stets unzulässig. An dieser Beurteilung ändert sich auch durch die Anwendung "abschwächender Klauseln" nichts. Dies sind Klauseln, durch die ein beherrschendes Unternehmen vorschreibt, nur einen Teil ihres Bedarfs bei ihm zu decken. Beträgt dieser Anteil 80 % oder mehr, so handelt es sich trotzdem um eine Ausschließlichkeitsbindung. Aber auch schon bei niedrigeren Anteilen, kann - je nach Lage des Falls - eine Ausschließlichkeitsbindung und damit ein Missbrauch angenommen werden.[10]
Gleiches gilt für sog. "englische Klauseln", bei denen das beherrschende Unternehmen auf die Ausschließlichkeitsbindung verzichtet, wenn den Abnehmern günstigere Angebote von dritter Seite vorliegen, in die das beherrschende Unternehmen nicht eintreten will.

5.1.4.2.2 Lieferverweigerung

Ein Missbrauch im Sinne des Art. 102 S. 2 lit. b AEUV liegt ferner vor, wenn ein beherrschendes Unternehmen die Geschäftsbeziehungen zu einem anderen Unternehmen abbricht oder von vornherein die Aufnahme solcher Beziehungen mit ihm ablehnt (sog. Geschäfts- oder Lieferverweigerung, sog. "refusal to supply"). Ein Missbrauch in diesem Sinne liegt ebenso vor, wenn das beherrschende Unternehmen die Aufnahme oder die Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen davon abhängig macht, dass der andere Teil für ihn im Grunde unzumutbare Geschäftsbedingungen akzeptiert. Irrelevant ist hierbei, ob es sich um die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen handelt.[11]

Die Geschäftsverweigerung wird von der Kommission dann als missbräuchlich gewertet, wenn davon wettbewerbsbeschränkende Wirkungen, insbesondere auf Drittmärkten, zu besorgen sind. Eine Verweigerung ist nur dann nicht missbräuchlich, wenn sie im Einzelfall, gemessen an den Vertragszielen, sachlich gerechtfertigt - vernünftig - erscheint. Hierzu ist erforderlich, dass dem beherrschenden Unternehmen zur Wahrung seiner legitimen Interessen kein milderes Mittel als gerade die Verweigerung der Geschäftsbeziehungen zur Verfügung steht.[12]


[1] EuGH Slg. 1974, 409 (430) – Sacchi.

[2] EuG Slg. 1997, II-1695 – Deutsche Bahn.

[3] EuGH Slg. 1978, 207 (298) – Chiquita.

[4] Kommission, Entsch. v. 17.6.1998, ABl. Nr. L 252/47 (56 ff. Tz. 34 ff.) – AAMS.

[5] EuGH NZKart 2013, 113 Tz. 74 f., 98 = WuW/E EU-R 2650 – AstraZeneca m. N.

[6] Herrmann, WuW 2009, 481 (497 ff.).

[7] EuGH Slg. 1988, 6067 (6073 Tz. 16) – Renault; Slg. 1988, 6232 (6235 Tz. 9) – Volvo.

[8] EuGH Slg. 1985, 880 (887 Tz. 26) – BT; Slg. 1991, I-5923 (5929 Tz. 19) = EuZW 1992, 248 (249) – Porto di Genova.

[9] Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage 2014, § 10 Rn. 24.

[10] Kommission, Entsch. v. 19.12.1990, ABl. 1991 Nr. L 152/21 (33 ff.) – Solvay.

[11] Kommission, Entsch. v. 2.6.2004, WuW/E EU-V 1053 (1058 ff., Tz. 220 ff.) – Clearstream.

[12] EuG Slg. 2005, II-5596 = WuW/E EU-R 977 (984 f. Tz. 306 ff.) – GE/Honeywell.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Kartellrecht – Eine Einführung“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Constantin Raves, Rechtsanwalt, und Alexander Fallenstein, wissenschaftlicher Mitarbeiter, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-77-9.



Autor(-en):
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Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2017


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