Kartellrecht – Eine Einführung – Teil 08 – Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung, Ausnahmen


Autor(-en):
Tilo Schindele
Rechtsanwalt

Constantin Raves
Rechtsanwalt


4.1.5 Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung

Als sog. ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal enthält Art. 101 Abs. 1 AEUV die Voraussetzung der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung.(Fußnote)
Mit Spürbarkeit ist dabei gemeint, dass von der Wettbewerbsbeschränkung erkennbare Auswirkungen auf Dritte im Sinne der Beeinträchtigung der ihnen bei Wettbewerb offenstehenden Handlungsalternativen ausgehen müssen. Damit soll verhindert werden, dass Art. 101 AEUV selbst auf Bagatellkartelle im weitesten Sinne angewendet werden kann. Maßstab für die Beurteilung der Spürbarkeit ist die hypothetische Situation des Wettbewerbs auf dem jeweils relevanten Markt ohne die fragliche Wettbewerbsbeschränkung.(Fußnote)
Die Frage der Spürbarkeit wird seitens des Gerichtshofes mittels einer Gesamtbetrachtung der Verhältnisse des Einzelfalls beantwortet. Ausschlaggebend ist, ob die jeweilige Wettbewerbsbeschränkung quantitativ oder qualitativ von Relevanz für das Binnenmarktprojekt ist (Fußnote) oder ob sie unter diesem Gesichtspunkt unbedenklich vernachlässigt werden kann. Liegt ein Fall der Unbedenklichkeit vor, so werden von Fall zu Fall auch besonders schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen wie z.B. die Vereinbarung eines absoluten Gebietsschutzes in Alleinvertriebsverträgen hingenommen.(Fußnote)
Die maßgeblichen Kriterien für die Beurteilung der Spürbarkeit variieren je nach Struktur des Marktes, der Bedeutung der beteiligten Unternehmen und der Art der Wettbewerbsbeschränkung. Die wichtigsten Kriterien sind der von den Beteiligten verfolgte Zweck sowie ihre Marktanteile. Bei Marktanteilen in einer Größenordnung von rund 5 % oder mehr auf dem relevanten Markt wird in den meisten Fällen die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung bejaht.(Fußnote)
In anderen Fällen haben die Unionsgerichte allerdings auch schon auf eine nähere Prüfung der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung verzichtet und sich stattdessen mit einem allgemeinen Blick auf die Bedeutung und Größe der beteiligten Unternehmen und die Schwere der Beschränkung begnügt, um deren Relevanz für den Binnenmarkt zutreffend würdigen zu können. Dies ist insbesondere der Fall, wenn es um Kern- oder „hardcore“-Beschränkungen (Fußnote) oder um bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen(Fußnote) geht.

4.1.6 Ausnahmen

In Einzelfällen kann ein eigentlich gegen das Kartellverbot verstoßendes Verhalten erlaubt sein. In Betracht kommen sowohl rechtlich festgelegte, als auch ungeschriebene Ausnahmen.

4.1.6.1 Legalausnahmen vom Kartellverbot, Art. 101 Abs. 3 AEUV

Art. 101 Abs. 3 AEUV normiert die vier Voraussetzungen, unter denen das Kartellverbot im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV für nicht anwendbar erklärt werden kann. Diese Voraussetzungen müssen gleichzeitig erfüllt sein, wenn Art. 101 Abs. 3 AEUV einschlägig sein soll.(Fußnote)

4.1.6.1.1 Einzelfreistellung

Die Ausnahmevorschrift des Art. 101 Abs. 3 AEUV ist durch eine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe gekennzeichnet. In der Rechtsprechung hat sich dadurch die Ansicht durchgesetzt, dass der Kommission ein weiter Beurteilungsspielraum eröffnet ist, der von den Unionsgerichten nur in engen Grenzen auf Verfahrensfehler, Ermessensmissbrauch und offenkundige Beurteilungsfehler überprüft werden kann.(Fußnote)
Weitere Folge der Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe war, dass sich die Kommissionen in der Vergangenheit oftmals ausführlich zu den einzelnen Feststellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV geäußert hat.(Fußnote) Ziel der Kommission war es, dass es den Unternehmen und den Gerichten der EU-Mitgliedsstaaten ermöglicht werden sollte, selbst über die Anwendbarkeit des Art. 101 Abs. 3 AEUV auf eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung zu entscheiden.
Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 101 Abs. 3 AEUV ergibt sich bei wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen, die als sog. Kernbeschränkungen zu qualifizieren sind. Hier wird in der Regel das Vorliegen der Voraussetzungen der Legalausnahme von der Kommission verneint(Fußnote), da Kernbeschränkungen "für die Verbraucher keine objektiven Vorteile oder einen Gewinn bewirkten"(Fußnote). Die essentiellsten Beispiele sind bei den horizontalen Vereinbarungen Preis-, Mengen- und Gebietsabsprachen sowie bei den vertikalen Vereinbarungen die Preisbindung, die Festsetzung von Mindestpreisen und der absolute Gebietsschutz.
Ferner ist Art. 101 Abs. 3 AEUV dann nicht anwendbar, wenn die jeweilige wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung gleichzeitig einen Missbrauch im Sinne des Art. 102 AEUV darstellt, da die Ausnahme des Abs. 3 nur für Art. 101 AEUV und nicht für Art. 102 AEUV gilt.(Fußnote)
Nachstehend erfolgt ein Abriss über die einzelnen Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV.

4.1.6.1.1.1 Verbesserung der Warenerzeugung oder Verteilung

Die wichtigste Voraussetzung für eine Freistellung im Sinne des Art. 101 Abs. 3 AEUV ist erfüllt, wenn die fragliche Vereinbarung einen Beitrag zur Verbesserung der Warenerzeugung oder Verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts leistet. Mit der Vereinbarung müssen tatsächlich spürbare objektive Vorteile für andere Marktteilnehmer und insbesondere auch für die Verbraucher verbunden sein, die die, durch die Vereinbarung hervorgerufenen Nachteile zumindest aufwiegen und konkret nachzuweisen sind(Fußnote). Die Besonderheiten der jeweiligen, betroffenen Branche sind bei der Beurteilung zu berücksichtigen.(Fußnote)
Die Prüfung der Voraussetzung erfolgt anhand einer Abwägung zwischen den Effizienzgewinnen, also den Vorteilen, die die Vereinbarung mit sich gebracht hat oder mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zukunft mit sich bringt und den mit ihr verbundenen Nachteilen. Maßgeblich sind hierbei die Verhältnisse ohne die betreffende Vereinbarung, das heißt bei unbeeinträchtigtem Wettbewerb.
Bei den in Betracht kommenden Vorteilen unterscheidet die Kommission zwischen quantitativen und qualitativen Effizienzgewinnen.
Unter quantitativen Effizienzgewinnen versteht sie dabei vor allem Kosteneinsparungen, die durch die fragliche Vereinbarung entstehen und unterschiedlichsten Ursprungs sein können.(Fußnote) HIerzu gehören u.a.:

  • Entwicklung neuer Produktionstechniken und -verfahren,
  • Synergieeffekte infolge der Zusammenlegung von Betriebsteilen,
  • Größen- und Verbundvorteile,
  • bessere Auslastung der Kapazität.

Qualitative Effizienzgewinne sind vor allem solche, die die Qualität der Produkte, in der Entwicklung neuer Produkte sowie die Qualität des Vertriebs verbessern:

  • Entwicklung neuer Medikamente(Fußnote),
  • die Erschließung neuer Märkte,
  • die Erhaltung von Arbeitsplätzen oder
  • der Schutz der Umwelt(Fußnote).

Bei der Beurteilung ist der Grundsatz zu beachten, dass die positiven Effekte einer Vereinbarung umso größer sein müssen, je schwerwiegender die mit ihr verbundenen Wettbewerbsbeschränkung ist.(Fußnote)


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Kartellrecht – Eine Einführung“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Constantin Raves, Rechtsanwalt, und Alexander Fallenstein, wissenschaftlicher Mitarbeiter, mit Fußnoten erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-77-9.



Autor(-en):
Tilo Schindele
Rechtsanwalt

Constantin Raves
Rechtsanwalt


Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2017


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Über die Autoren:

Tilo Schindele, Rechtsanwalt

Portrait Tilo-Schindele

Rechtsanwalt Schindele berät und vertritt bei Verstößen im Bereich des unlauteren Wettbewerbs, sei es im außergerichtlichen Bereich der Abmahnungen und Abschlussschreiben, im Bereich der einstweiligen Verfügungen oder in gerichtlichen Hauptsacheverfahren. Er prüft Werbeauftritte wi Internetseiten und Prospekte zur Vermeidung von Abmahnrisiken und verhandelt Vertragsstrafevereinbarungen zur Beseitigung der Wiederholungsgefahr zwischen Verletzern und Verletzten.

Tilo Schindele ist Dozent für Kartellrecht bei der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.
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Normen: Art. 101 Abs. 1 AEUV, Art. 101 Abs. 3 AEUV

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