Kartellrecht – Eine Einführung – Teil 01 – Einführung, Grundlagen des europäischen und deutschen Kartellrechts


Autor(-en):
Tilo Schindele
Rechtsanwalt

Constantin Raves
Rechtsanwalt


1 Einführung

Kartellrechtliche Frage- und Problemstellungen haben in der unternehmerischen Entscheidungspraxis in den vergangenen Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen.
Milliardenschwere Zusammenschlussvorhaben können an der Untersagungsverfügung einer Wettbewerbsbehörde scheitern. Kartellrechtliche Verstöße werden mit hohen Bußgeldern sanktioniert und auch das sog. private enforcement, d.h. die Geltendmachung privatrechtlicher Ansprüche auf Schadensersatz gegen wettbewerbswidriges Handeln von (Konkurrenz-)Unternehmen gewinnt in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung.

Gerade das Kartellrecht steht, wie kaum ein anderes Rechtsgebiet, an einer Schnittstelle zwischen den Rechts- und den Wirtschaftswissenschaften. Folge ist, dass wettbewerbsrechtliche Problemstellungen nicht nur von einem juristischen Blickpunkt, sondern auch einem ökonomisch, wirtschaftlichen Blickpunkt aus betrachtet und gelöst werden müssen.

In diesem Buch werden die sog. 3 Säulen des europäischen und deutschen Kartellrechts, das Kartellverbot, das Missbrauchsverbot sowie das Fusionskontrollverfahren dargestellt und korrespondierende Rechtsfragen erörtert. Die angeführten Beispiele basieren zumeist auf realen Sachverhalten, die von Gerichten entschieden worden sind.

2 Grundlagen des europäischen und deutschen Kartellrechts

Die Grundlagen des europäischen und deutschen Kartellrechts basieren auf dem Begriff des Wettbewerbs. Formal wird von einem Wettbewerb gesprochen, wenn

  • Märkte bestehen, auf denen
  • mindestens zwei Anbieter oder zwei Nachfrager auftreten, die sich
  • antagonistisch verhalten.

Antagonistisch bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Marktteilnehmer sich so verhalten, dass sie durch Einsatz verschiedener Aktionsparameter ihren Zielerreichungsgrad zu Lasten anderer Wirtschaftssubjekte verbessern möchten. Damit ist eine Komplementarität von Anreiz- und Ordnungsfunktion gegeben, die im sog. sozialistischen Wettbewerb (sozialistische Marktwirtschaft) fehlt.

2.1 Wettbewerbsfunktionen

Vom Wettbewerb werden verschiedene positive Wirkungen erwartet. Dies ist der Grund, warum er in der Praxis so schützenswert ist. In der Theorie werden solche Wirkungen oder Effekte des Wettbewerbs als Wettbewerbsfunktionen bezeichnet. Hierbei wird vor allem zwischen wirtschaftspolitischen und gesellschaftspolitischen Funktionen unterschieden.

2.1.1 Wirtschaftspolitische Funktionen

Vom Wettbewerb werden verschiedene positive Wirkungen erwartet. Dies ist der Grund, warum er in der Praxis so schützenswert ist. In der Theorie werden solche Wirkungen oder Effekte des Wettbewerbs als Wettbewerbsfunktionen bezeichnet. Hierbei wird vor allem zwischen wirtschaftspolitischen und gesellschaftspolitischen Funktionen unterschieden.
Zu den wirtschaftspolitischen Funktionen des Wettbewerbs gehören in erster Linie die Steuerungs- oder Ordnungsfunktion, sowie die Verteilungs- und die Antriebs- oder Leistungsfunktion des Wettbewerbs.
Die unterschiedlichen Vorteile eines Wettbewerbs der Anbieter, und damit zugleich die Nachteile jeder Beschränkung dieses Wettbewerbs, lassen sich für einen kurzen Überblick über die wirtschaftspolitischen Funktionen leicht am Beispiel des Angebotswettbewerbs mehrerer selbstständiger Unternehmen aufzeigen. Mit Nachteilen ist hier besonders der Ausschluss der Freiheit der konkurrierenden Unternehmen zu selbstständigem Handeln am Markt gemeint. Ursache hierfür sind zumeist Preiskartelle, das heißt Preisabsprachen zwischen mehreren Mitbewerbern und das Auftreten von Monopolen, also das Auftreten eines marktbeherrschenden Unternehmens.
Folge solcher Marktkonstellationen ist immer, dass im Gegensatz zu der Situation bei funktionierendem Wettbewerb die Marktgegenseite - damit sind in erster Linie die Verbraucher gemeint - keine Alternativen mehr haben, unter denen sie entsprechend ihren Präferenzen wählen können, so dass sich die Anbieter nicht mehr um die Wünsche ihrer Kunden zu kümmern brauchen und sie ihre Preise nahezu beliebig hoch festsetzen können[1], also diktieren können.
Folge ist damit auch, dass für die privilegierten Unternehmen jeder Anlass entfällt, sich um Kostensenkungen, um eine Verbesserung ihrer Produkte oder um die Entwicklung neuer Produkte zu bemühen. Die wirtschaftliche Dynamik auf dem relevanten Markt erlahmt.

2.1.2 Gesellschaftspolitische Funktionen

Mit den gesellschaftspolitischen Funktionen des Wettbewerbs ist vor allem die Aufgabe des Wettbewerbs gemeint, für die Herstellung einer gleichmäßigen Machtverteilung in Wirtschaft und Gesellschaft zu sorgen.[2] Hintergrund dieser Aufgabe sind die geschichtlichen Erfahrungen, die gezeigt haben, dass es vor allem der Wettbewerb ist, der in unserer Gesellschaftsordnung dazu berufen ist, den Aufbau endgültiger Machtpositionen zu verhindern, durch die die gleiche Freiheit aller anderen bedroht wird (sog. machtzerstörende oder machtneutralisierende Wirkung des Wettbewerbs[3]).
Der Gedanke hinter dieser Aussage ist, dass eine auf Privatautonomie und Eigentum aufgebaute und durch Verträge gestaltete Privatrechtsordnung nur dann zu "gerechten", das heißt akzeptierten Ergebnissen führen kann, wenn es keinem Privatrechtssubjekt gelingt, endgültig eine derartige wirtschaftliche Macht zu erringen, dass es ihm möglich wird, an die Stelle des interessenausgleichenden Vertragsmechanismus sein einseitiges Bestimmen zu setzen.[4]
Der Wettbewerb hat für jede freiheitliche Gesellschafts- und Privatrechtsordnung damit fundamentale Bedeutung und gehört neben den allgemeinen Grundsätzen der Privatautonomie und dem Privateigentum zu den drei Säulen, auf denen jede funktionsfähige freie Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung basiert.
Von diesem Ausgangspunkt ausgehend, stellt sich heute die Frage, wie viel Privateigentum, Vertragsfreiheit und Wettbewerb jeweils wünschenswert sind und wie der Wettbewerb geschützt werden kann. Die Beantwortung dieser Frage stellt den Kern des Kartellrechts dar.

2.2 Wettbewerbstheorien –und Leitbilder

Die Wettbewerbstheorie hat die Aufgabe, Ursache-Wirkungszusammenhänge von wettbewerblichen Marktprozessen zu erklären und damit die wissenschaftliche Grundlage für staatliche Wettbewerbspolitik zu schaffen.

2.2.1 Überblick

Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Wettbewerbstheorien entwickelt, um den Wettbewerb näher zu konkretisieren.
Als eine der ersten haben der Theoretiker Adam Smith und die Vertreter der klassischen Schule die sog. "Klassische Wettbewerbstheorie" begründet. Die "Klassische Wettbewerbstheorie" lässt sich charakterisieren als die Freiheit zum Wettbewerb unter Konkurrenten, d.h. Freiheit für verstoßende und nachahmende Wettbewerbshandlungen, sowie Freiheit der Konsumenten, unter den von der Marktgegenseite gebotenen Alternativen zu wählen. Wettbewerb im Sinne der Klassik ist ein dynamischer Prozess aus Aktion und Reaktion, der jedem Marktteilnehmer einen begrenzten Freiheitsbereich gibt. Das Ausnutzen der Wettbewerbsfreiheit unter Verfolgung des Eigeninteresses führt über den Marktmechanismus dazu, dass jedes Wirtschaftssubjekt das erhält, was ihm nach seiner Leistung für den Markt zusteht. Durch dieses freie Spiel der Kräfte entsteht wie durch eine "Invisible Hand" eine allgemeine Harmonie der Interessen, die durch den Eingriff des Staates nur gestört werden kann.[5]
Häufig wird daneben auch auf das berühmte Diktum von Friedrich von Hayek verwiesen. Dieser sah im Wettbewerb ein "Entdeckungsverfahren von Tatsachen, die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden". Diese Definition betont das Offene der unternehmerischen Aktivität, die sich daraus ergebenden Chancen und warnt vor der Anmaßung, planend oder steuernd in das Geschehen einzugreifen. Sie ist damit Ausfluss eines sehr liberalen Marktkonzepts.[6]
Mitte des 20. Jahrhunderts etablierte sich das sog. ordoliberale Wettbewerbsleitbild der Freiburger Schule. Diesem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die privatautonome Koordination der Marktteilnehmer die Wirtschaft ausmacht, der Staat aber eine wesentliche Rolle als Ordnungsgarant hat. Außer-ökonomische Grundwerte waren für das Freiburger Leitbild relevant. Heute wird mit dem ordoliberalen Denken vor allem der weitgehende Verzicht auf staatliche Einzelfallregulierung und gleichzeitige Setzung eines staatlichen Ordnungsrahmens verbunden.
In den USA dominierten stärker rein ökonomisch geprägte Theorien. In Abkehr von der Suche nach perfektem Wettbewerb etablierte die Harvard School ihre Vorstellungen von "workable competition". Nach diesen Vorstellungen versuchte sie, Marktverfälschungen auszugleichen und setzte dabei weniger am Marktverhalten an, sondern an der Marktstruktur. Die später in den USA besonders einflussreiche Chicago-School propagierte einerseits ein stark ergebnisorientiertes Effizienzdenken, sodass die Auswirkungen von Handlungen, die Marktresultate, darunter Wohlfahrtssteigerung und niedrige Verbraucherpreise, stärker zum Maßstab gemacht wurden. Zugleich misstraute die Chicago-School staatlichen Interventionen und setzte auf die Selbstheilungskraft der Märkte.[7]

2.2.2 „more economic approach“

Die aktuelle Entwicklung ist bei der Anwendung des Kartellrechts durch einen - vor allem seitens der EU-Kommission - praktizierten "more economic approach" geprägt. Nach dem Vorbild des amerikanischen Rechts soll damit die Steigerung der Effizienz durch Zusammenarbeit und Unternehmensverbindungen zum Kriterium werden, das Beeinträchtigungen des Wettbewerbs, unter Anderem zwecks Verbraucherschutz, in Kauf nimmt.
Diese, auf die Preistheorie zurückgehende Sichtweise wird insbesondere von deutschen Juristen kritisch angesehen, weil der Verbraucherschutz längerfristig am besten durch den Wettbewerb als gewährleistet angesehen wird und daher kurzfristige Verbrauchervorteile nicht als Rechtfertigung für den Ausschluss wirksamen Wettbewerbs akzeptiert werden.[8]


[1 Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage 2014, § 1 Rn. 8.

[2] F. Böhm, Kartelle und Monopole im modernen Recht, Bd. I, 1961, S. 3 ff.; J.M. Clark, AER 45 (1955), 450; Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235.

[3] Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage 2014, § 1 Rn. 9.

[4] Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage 2014, § 1 Rn. 10.

[5] Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage 2014, § 1 Rn. 12.

[6] Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage 2014, § 1 Rn. 29.

[7] Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage 2014, § 1 Rn. 32.

[8] Vgl. hierzu kritisch: Immenga, WuW 2006, 463; Bueren, WRP 2004, 567; befürwortend: Schmidtchen, WuW 2006, 6

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Kartellrecht – Eine Einführung“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Constantin Raves, Rechtsanwalt, und Alexander Fallenstein, wissenschaftlicher Mitarbeiter, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-77-9.



Autor(-en):
Tilo Schindele
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Constantin Raves
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Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2017


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Über die Autoren:

Tilo Schindele, Rechtsanwalt

Portrait Tilo-Schindele

Rechtsanwalt Schindele berät und vertritt bei Verstößen im Bereich des unlauteren Wettbewerbs, sei es im außergerichtlichen Bereich der Abmahnungen und Abschlussschreiben, im Bereich der einstweiligen Verfügungen oder in gerichtlichen Hauptsacheverfahren. Er prüft Werbeauftritte wi Internetseiten und Prospekte zur Vermeidung von Abmahnrisiken und verhandelt Vertragsstrafevereinbarungen zur Beseitigung der Wiederholungsgefahr zwischen Verletzern und Verletzten.

Tilo Schindele ist Dozent für Kartellrecht bei der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.
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