Int. Vertragsrecht - Teil 17 - Ausweichklausel, Alternativklausel

5.2.3 Ausweichklausel, Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO

Auch wenn der Vertrag zunächst nach Abs. 1 oder 2 der Rechtsordnung eines bestimmten Staats unterliegen würde, kann das anwendbare Recht im Ausnahmefall davon abweichen. Ergibt sich nämlich aus der Gesamtbetrachtung der Umstände, dass der Vertrag eine "offensichtlich engere Verbindung" zu einer anderen als der von Abs. 1 oder 2 bestimmten Rechtsordnung hat, so findet gem. Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO das Recht des Staates mit der engsten Verbindung Anwendung.[1]

Eine "offensichtlich" engere Verbindung zu einer anderen Rechtsordnung kann bspw. vorliegen, wenn die Anknüpfung an Abs. 1 oder 2 zur Anwendung eines Rechts führt, dass bei objektiver Betrachtung willkürlich oder isoliert erscheint.[2] Liegen zudem Indizien vor, die die Anwendung eines anderen Rechts nahelegen, so kann von durch Abs. 1 oder 2 bestimmten Rechtsordnung abgewichen werden. Anerkannt sind zunächst einmal die Indizien, die auch im Rahmen der konkludenten Rechtswahl anerkannt werden, in der Gesamtbetrachtung aber nicht für ausreichend befunden worden sind, um eine Rechtswahl nach Art. 3 Rom I-VO anzunehmen (s. Kapitel 4.2.2.1).[3] Dies gilt insbesondere für solche Verträge, die Bezug auf andere Verträge nehmen, die bereits einem bestimmten Recht unterstehen.[4] Im Gegensatz zu Art. 3 Rom I-VO können aber auch "weiche Indizien" wie die Staatsangehörigkeit der Parteien, die Vertragssprache und der Abschlussort des Vertrags im Rahmen des Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO eine Rolle spielen, wenn sie eindeutig auf eine engere Verbindung zum Recht eines anderen Staates hinweisen.

Beispiel
Ein Unternehmen mit Sitz in Deutschland besitzt eine fällige Kaufpreisforderung gegen ein Unternehmen mit Sitz in Tschechien, auf die deutsches Recht Anwendung findet. Um eine Verlängerung der Zahlungsfrist zu erwirken, wendet sich das tschechische Unternehmen an einen vermögenden Privatmann mit Wohnsitz in Polen. Dieser übernimmt gegenüber dem deutschen Unternehmen eine Bürgschaft für die Kaufpreisforderung. Welches Recht ist auf die Bürgschaft mangels Rechtswahl anzuwenden?

  • Bei der Bürgschaft handelt es sich nicht um einen Katalogvertrag iSd Art. 4 Abs. 1 lit. a - h Rom I-VO. Daher kommt Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO zum Tragen, dem zufolge grundsätzlich das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Leistungserbringers anzuwenden ist. Der die Bürgschaft erbringende Privatmann hat diesen in Polen, wodurch polnisches Recht auf den Vertrag Anwendung finden würde.
  • In Anbetracht dessen, dass die verbürgte Kaufpreisforderung allerdings deutschem Recht untersteht und die Vertragsparteien des ihr zu Grunde liegendem Kaufvertrags keinen Bezug zum Recht von Polen haben, wirkt die Wahl polnischen Rechts in diesem Fall deplatziert. Daher ist zu fragen, ob nicht gem. Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO ausnahmsweise eine Rechtsordnung anzuwenden ist, die eine offensichtlich engere Verbindung zum Vertrag aufweist. Dadurch, dass die Bürgschaft Bezug auf die deutschem Recht unterstehende Kaufpreisforderung nimmt und diese Umfang und Bestehen der Bürgenhaftung definiert, besteht eine engere Verbindung zum Recht Deutschlands als zu polnischem Recht. Daher ist auf den Bürgschaftsvertrag gem. Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO deutsches Recht anzuwenden.

5.2.4 Alternativklausel, Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO

Der Vertrag unterliegt gem. Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO auch dann der Rechtsordnung mit dem er die engste Verbindung hat, wenn das anzuwendende Recht überhaupt nicht nach Art. 4 Abs. 1 und 2 Rom I-VO bestimmt werden kann. Das ist immer dann der Fall, wenn unklar ist, wer die vertragscharakteristische Leistung erbringt und daher nicht an den gewöhnlichen Aufenthalt des Leistungserbringers angeknüpft werden kann. Das ist insbesondere bei Swaps, Tausch- und Kooperationsverträgen der Fall.[5]

Beispiel
Ein forschungsstarkes Pharma-Unternehmen mit Sitz in Flensburg schließt in Helsinki einen Kooperationsvertag mit einer dort ansässigen Universität. Darin verpflichten sich die Parteien gemeinsam einen neuen Grippe-Impfstoff zu erforschen. Durchgeführt werden soll die Forschung an der medizinischen Fakultät der Universität in Helsinki. Welches Recht ist mangels Rechtswahl auf den Vertrag anzuwenden?

  • Es wurde weder eine Rechtswahl iSd Art. 3 Rom I-VO vereinbart noch liegt ein Vertrag iSd Art. 5 - 8 Rom I-VO vor. Daher muss die Rechtswahl im Wege der objektiven Anknüpfung gem. Art. 4 Rom I-VO bestimmt werden. Allerdings handelt es sich bei einem Kooperationsvertrag nicht um einen der in Art. 4 Abs. 1 lit. a -h Rom I-VO aufgeführten Katalogverträge. Darüber hinaus geht auch Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO ins Leere, da bei einem Kooperationsvertrag beide Parteien gemeinsam an einem Projekt arbeiten und somit beide die für den Vertrag charakteristische Leistung erbringen.
  • Deswegen greift die Regelung des Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO, nach der in solchen Fällen auf das Recht des Staates mit der engsten Verbindung zum Vertrag abzustellen ist. Indizien für eine enge Verbindung zum Vertrag sind unter anderem der Abschlussort und der Ort an dem die vertragliche Leistung zu erbringen ist. In beiden Fällen ist dies Finnland. Für eine engere Verbindung mit deutschem Recht gibt es keine Anhaltspunkte. Daher ist auf den Kooperationsvertrag finnisches Recht anzuwenden.

[1] EuGH v. 06.10.2009 - C-133/08 - Slg. 2009, I-9687 Rn 64.

[2] Ringe in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Auflage 2017, Art. 4 Rom I-VO Rn 60.

[3] Ringe in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Auflage 2017, Art. 4 Rom I-VO Rn 61.

[4] Vgl. Erwägungsgrund 20 Rom I-VO.

[5] Güllemann, Internationales Vertragsrecht, 2. Auflage 2014, S. 62.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Internationales Vertragsrecht“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Tim Hagemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-88-5.


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Stand: Januar 2018


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Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Stuttgart

Portrait Tilo-Schindele

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Tilo Schindele ist Dozent für IT-Recht und Datenschutz bei der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.

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