Int. Vertragsrecht - Teil 12 - Objektive Anknüpfung gem. Art. 4 Rom I-VO

5.1.1 Keine Rechtswahl nach Art. 3 Rom I-VO

Die Parteien dürfen keine ausdrückliche oder konkludente Rechtswahl iSd Art. 3 Rom I-VO getroffen haben. In diesen Fällen gilt dann das von den Parteien verabredete Recht. Das gleiche gilt, wenn die Rechtswahl der Parteien unklar oder unwirksam ist.[1] Haben die Parteien eine negative Rechtswahl getroffen, also lediglich die Anwendbarkeit eines bestimmten Rechts ausgeschlossen, so findet Art. 4 Rom I-VO nur bzgl. des nicht ausgeschlossenen Rechts Anwendung.[2]

5.1.2 Kein Vertrag iSd Art. 5 – 8 Rom I-VO

Damit Art. 4 Rom I-VO Anwendung finden kann, darf ferner kein in Art. 5-8 Rom I-VO aufgeführter Vertragstyp vorliegen. Es darf sich also nicht um einen der folgenden Verträge handeln:

  • Beförderungsverträge iSd Art. 5 Rom I-VO
  • Verbraucherverträge iSd 6 Rom I-VO
  • Versicherungsverträge iSd 7 Rom I-VO
  • Individualarbeitsverträge iSd 8 Rom I-VO.

Für diese Verträge gelten nicht die in Art. 4 Rom I-VO definierten objektiven Anknüpfungspunkte, sondern die in den jeweiligen Artikeln aufgeführten besonderen Anforderungen zur Rechtsbestimmung (s. Kapitel 6).[3]

5.2 Objektive Anknüpfung gem. Art. 4 Rom I-VO

Wurde weder eine Rechtswahl nach Art. 3 Rom I-VO bestimmt noch eine Vertragsart iSd Art. 5 - 8 Rom I-VO gewählt, so greifen die objektiven Anknüpfungspunkte des Art. 4 Rom I-VO. Der Gesetzgeber hat Art. 4 Rom I-VO dabei absichtlich so gestaltet, dass die Reihenfolge der Artikel der Prüfungsreihenfolge entspricht.[4]

Das bedeutet, dass zunächst geprüft werden muss, ob einer der in Abs. 1 aufgeführten Katalogverträge vorliegt. Ist dies der Fall, so gelten die dortigen objektiven Anknüpfungspunkte. Andernfalls greift die Auffangregelung des Abs. 2, nach der die Rechtsordnung der Vertragspartei anzuwenden ist, die die vertragstypische Leistung erbringt.[5] Danach muss gem. Abs. 3 überprüft werden, ob trotz der Anknüpfung an die objektiven Umstände nach Abs. 1 und 2 nicht ausnahmsweise ein Recht besteht, das aufgrund seiner engeren Verbindung zum Vertrag Anwendungsvorrang besitzt.[6] Lässt sich das Recht überhaupt nicht nach Abs. 1 und 2 bestimmen, so ist nach Abs. 4 auch hier das Recht zu wählen, zu dem der Vertrag die engste Verbindung aufweist.[7]

5.2.1 Katalogverträge, Art. 4 Abs. 1 Rom I-VO

Die in Art. 4 Abs. 1 lit. a - h Rom I-VO aufgezählten acht Vertragstypen definieren besondere objektive Anknüpfungspunkte, die mangels Rechtswahl der Parteien heranzuziehen sind. Dies sind abhängig vom Vertragstyp der gewöhnliche Aufenthaltsort (lit. a, b, d, e, f), die Belegenheit der Sache (lit. c), der Versteigerungsort (lit. g) oder das multilateral vereinbarte Recht (lit. h). Welche Verträge betroffen sind und was jeweils zu beachten ist, wird im Folgenden dargestellt.

5.2.1.1 Kaufverträge über bewegliche Sachen, lit. a

Schließen die Parteien einen Kaufvertrag über bewegliche Sachen, so ist gem. Art. 4 Abs. 1 lit. a Rom I-VO das Recht desjenigen Staates anzuwenden in dem der Verkäufer der Sache seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.[8] Als bewegliche Sachen werden alle körperlichen Gegenstände bezeichnet, die nicht Grundstücke oder Grundstücksbestandteile sind. Umfasst sind davon also Warenkaufverträge, nicht jedoch solche über den Kauf von Immobilien.

5.2.1.1.1 Gewöhnlicher Aufenthalt

Was unter dem "gewöhnlichen Aufenthalt" zu verstehen ist, ergibt sich aus Art. 19 Rom I-VO. Für Gesellschaften, Vereine und juristische Personen ist dies gem. Art. 19 Abs. 1 Rom I-VO der tatsächliche Ort ihrer Hauptverwaltung, also dort, wo zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses über die zentralen Leitungsentscheidungen befunden wird.[9] Bei Verträgen, die von einer Niederlassung (bspw. einer Zweigniederlassung oder einer Agentur) geschlossen oder deren vertragliche Leistungen von dieser erfüllt werden, ist der gewöhnliche Aufenthalt der Ort der Niederlassung.[10] Ob im Zweifel auf den Ort der Hauptverwaltung oder den der Niederlassung abzustellen ist, wird danach bewertet, mit wem der Geschäftspartner berechtigterweise annehmen durfte den Vertrag abzuschließen.[11]

Beispiel
Das Unternehmen Apfel besitzt neben seinem Hauptsitz im amerikanischen Bundesstaat Kalifornien auch eine Niederlassung in Deutschland. Ein französischer Verbraucher schließt mit der deutschen Niederlassung des Unternehmens einen Kaufvertrag über einen MP3 Player. Wo befindet sich der gewöhnliche Aufenthalt des Unternehmens im Rahmen dieses Vertrages?

  • Zwar werden in diesem Fall die Hauptentscheidungen des Unternehmens nicht in Deutschland, sondern in Kalifornien getroffen, wodurch der gewöhnliche Aufenthalt grundsätzlich in Kalifornien zu verorten wäre. Allerdings tritt die deutsche Niederlassung des Unternehmens gegenüber dem Käufer als Ansprech- und Vertragspartner auf. Da der Käufer somit berechtigterweise annehmen durfte, dass sein Vertragspartner die deutsche Niederlassung sei, ist in diesem Fall Deutschland der gewöhnliche Aufenthalt des Unternehmens.

Bei natürlichen Personen unterscheidet Art. 19 Rom I-VO danach, ob diese geschäftlich oder privat tätig werden. Handelt eine natürliche Person in Ausübung ihrer geschäftlichen Tätigkeit, so zählt als gewöhnlicher Aufenthalt der Sitz der "Hauptniederlassung", also parallel zu Abs. 2 der Ort der Hauptverwaltung oder der der Niederlassung, die dem Vertrag am nächsten steht.[12] Für Privatpersonen ist der Aufenthaltsort dort, wo diese ihren Lebensmittelpunkt haben, in der Regel also an ihren Wohnort.[13]

5.2.1.1.2 Vorrang des CISG

Im Rahmen von grenzüberschreitenden Warenkaufverträgen gilt es unbedingt zu beachten, dass diese eventuell den Vorschriften des UN-Kaufrechts (CISG) unterliegen können. Als internationales Abkommen genießt das CISG Vorrang vor der Rom I-VO (s. Kapitel 3.3). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Rom I-VO nur dann anwendbar ist, wenn der Vertrag nicht in den Anwendungsbereich des CISG fällt, also wenn:

  • Mindestens eine Partei aus einem Staat kommt, der kein Mitglied des CISG ist (z.B. England)
  • Die Parteien die Anwendbarkeit des CISG ausdrücklich ausgeschlossen haben oder
  • Es sich um Warenkäufe für den privaten Ge- oder Verbrauch handelt.

Beispiel
Ein deutsches Unternehmen schließt mit einem französischen Geschäftsmann einen Kaufvertrag über einen Porsche-Oldtimer für dessen private Sammlung ab. Die Parteien haben ihren Sitz im jeweiligen Land. Welches Recht findet bei fehlender Rechtswahl Anwendung?

  • CISG: In diesem Fall könnte UN-Kaufrecht vorrangig einschlägig sein. Zunächst handelt es sich um einen grenzüberschreitenden Warenkauf und beide Parteien haben ihren Sitz in einem Mitgliedsstaat des CISG. Allerdings verfolgte der Käufer mit dem Vertrag keinen kommerziellen Zweck, sondern wollte die Kaufsache für seine Sammlung gebrauchen. Der Kauf von Waren, die für die private Verwendung gebraucht werden, ist aber ausdrücklich von Art. 2 lit. a CISG vom Anwendungsbereich des UN-Kaufrechts ausgeschlossen. Die CISG findet hier also keine Anwendung.
  • Rom I-VO: Als internationaler Warenkaufvertrag besteht ein Bezug zum Recht verschiedener Staaten. Der Anwendungsbereich der Rom I-VO ist also eröffnet. Es liegt weder eine Rechtswahl iSd Art. 3 Rom-I VO noch ein gesondert einschlägiger Vertrag iSd Art. 5 - 8 Rom I-VO vor. Somit bemisst sich die Rechtswahl für Warenkaufverträge nach der objektiven Anknüpfung des Art. 4 Abs. 1 lit. a Rom I-VO, also nach dem gewöhnlichen Aufenthaltsort des Verkäufers. Da dieser in Deutschland liegt ist vorliegend deutsches Recht auf den Vertrag anzuwenden.


[1] Ferrari IntVertragsR/Ferrari, 3. Auflage 2018, VO (EG) 593/2008 Art. 4 Rn 1.

[2] Ringe in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Auflage 2017, Art. 4 Rom I-VO Rn 7.

[3] Ringe in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Auflage 2017, Art. 4 Rom I-VO Rn 3.

[4] Martiny in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Auflage 2015, 2. Teil, Rn 2.142.

[5] Güllemann, Internationales Vertragsrecht, 2. Auflage 2014, S.48.

[6] Leible/Lehmann, RIW 2008, 529 (535).

[7] Güllemann, Internationales Vertragsrecht, 2. Auflage 2014, S.48.

[8] Ringe in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Auflage 2017, Art. 4 Rom I-VO Rn 17.

[9] BeckOK BGB/Spickhoff, 44. Ed. 1.11.2017, VO (EG) 593/2008 Art. 19 Rn 2.

[10] BeckOK BGB/Spickhoff, 44. Ed. 1.11.2017, VO (EG) 593/2008 Art. 19 Rn 3.

[11] Ringe in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Auflage 2017, Art. 19 Rom I-VO Rn 15.

[12] Ringe in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Auflage 2017, Art. 19 Rom I-VO Rn 23.

[13] BeckOK BGB/Spickhoff, 44. Ed. 1.11.2017, VO (EG) 593/2008 Art. 19 Rn 5.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Internationales Vertragsrecht“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Tim Hagemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-88-5.


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Stand: Januar 2018


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Portrait Tilo-Schindele

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Tilo Schindele ist Dozent für IT-Recht und Datenschutz bei der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.

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