Handbuch zur arbeitsrechtlichen Abmahnung – Teil 15 – Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen

4.2 Materielle Wirksamkeitsvoraussetzungen

4.2.1 Vorliegen eines Abmahnungsgrundes

Damit eine Abmahnung wirksam ergehen kann, muss zunächst ein Abmahnungsgrund vorliegen. Das bedeutet, dass sich die Abmahnung auf zutreffende Tatsachen stützen muss, die einen objektiven Pflichtverstoß des Arbeitnehmers bedeuten. Ob dem Arbeitnehmer bewusst war, dass er sich pflichtwidrig verhält oder nicht, ist grundsätzlich unbeachtlich. Gerade in Fällen, in denen sich der Arbeitnehmer gar nicht über sein Fehlverhalten im Klaren war, ist die Abmahnung das geeignete Mittel, um ihm sein fehlendes Unrechtsbewusstsein aufzuzeigen (Fußnote).

4.2.2 Verschulden

Grundsätzlich unbeachtlich ist, ob der Arbeitnehmer die Pflichtverletzung zu verschulden hat (Fußnote). Dies mag zunächst verwirren, denn eine Kündigung kann regelmäßig nur auf einem schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers beruhen (Fußnote). Allerdings stellt die Abmahnung lediglich die "Vorstufe" zur Kündigung da, weshalb kein Grund besteht, an beide Institute identische Voraussetzungen zu stellen. Somit kann eine Abmahnung auch dann wirksam ergehen, wenn der Arbeitnehmer seine Pflichten nicht schuldhaft verletzt hat. Daher sind insbesondere auch Abmahnungen wirksam, die ein Verhalten beanstanden, welches der Arbeitnehmer nicht steuern kann. Zwar gehen ihre Funktionen dadurch, dass der Arbeitnehmer sein Verhalten gar nicht ändern kann, weitgehend ins Leere (Fußnote), und in vielen Fällen mag sie für eine Kündigung gerade aus diesem Grund auch entbehrlich sein. Jedoch schließt die fehlende Notwenigkeit nicht aus, dass eine Abmahnung wirksam ergehen kann. Schließlich kann sich der Arbeitnehmer auch durch das Erteilen einer Abmahnung absichern, wenn unklar ist, ob in der Folge eine personen- oder verhaltensbedingte Kündigung einschlägig sein wird (Fußnote).

4.2.3 Verhältnismäßigkeit

Zudem kann nicht jeder noch so kleine Vertragsverstoß abgemahnt werden. Eine Abmahnung muss stets "verhältnismäßig" sein (Fußnote). Eine Abmahnung gilt als unzulässig, wenn der Arbeitnehmer unverhältnismäßige Nachteile erleidet oder eine mildere Maßnahme gegen ihn gleichermaßen in Betracht käme.
Ob eine Abmahnung unverhältnismäßig ist, muss je nach Einzelfall unterschieden werden. Es kommt dabei nicht darauf an, ob der entsprechende Verstoß bei erneutem Begehen für eine Kündigung ausreichen würde (Fußnote). Zudem ist eine Abmahnung grundsätzlich auch dann zulässig, wenn es durch das Fehlverhalten zu keiner konkreten Störung des Arbeitsverhältnisses gekommen ist (Fußnote).
Die Abmahnung ist hingegen unverhältnismäßig und unzulässig, wenn es sich bei dem abgemahnten Fehlverhalten lediglich um "Lächerlichkeiten und Kleinigkeiten" handelt. In einem solchen Fall gibt es mildere Maßnahmen als eine Abmahnung (Fußnote).

Beispiel
Arbeitnehmer N erscheint einmalig zwei Minuten zu spät zur Arbeit. Arbeitgeber G möchte N deshalb eine Abmahnung erteilen.

  • Eine Abmahnung wegen einer einmaligen Verspätung von zwei Minuten wäre unverhältnismäßig und daher unzulässig. Eine so geringe Verspätung fällt bei realistischer Betrachtung nicht ins Gewicht; es handelt sich um eine Lappalie. Wenn überhaupt könnte eine Ermahnung in Betracht kommen.

Auch eine noch so geringe Pflichtverletzt kann jedoch, wenn sie gehäuft auftritt und trotz Ermahnung nicht unterlassen wird, trotz ihrer Geringwertigkeit kumuliert ausreichen für eine Abmahnung (Fußnote). Dies gilt jedoch nicht für sozialadäquate Handlungen (Fußnote). Diese reichen selbst dann, wenn sie mehrmals begangen werden, nicht für eine Abmahnung aus (Fußnote).

Beispiel
Arbeitnehmer N kommt jeden Tag fünf Minuten zu spät, obwohl sein Arbeitgeber G ihn bereits deshalb ermahnt hat. G möchte N nun deshalb abmahnen.

  • G kann N wegen der wiederholten Verspätungen abmahnen. Zwar erscheint jede Verspätung mit ihrer geringen Dauer eher als Lappalie, jedoch lässt die "Summe" der Verspätungen eine Abmahnung nicht mehr unverhältnismäßig erscheinen. Das verspätete Erscheinen zur Arbeit ist auch ersichtlich nicht sozialadäquat. Eine Abmahnung kann somit gegenüber N ergehen.

Eine Abmahnung ist des Weiteren unverhältnismäßig, wenn sie den Arbeitnehmer in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt.

Beispiel
Arbeitnehmer N erscheint unentschuldigt zu spät zur Arbeit. Arbeitnehmer N übergibt ihm daraufhin ein Schreiben, mit welchem er N wegen des Vorfalls abmahnen möchte. In dem Schreiben heißt es, N sei "der faulste Arbeiter der Welt", gefolgt von noch wüstere Beschimpfungen.

  • Die Abmahnung ist unverhältnismäßig und daher unwirksam. Sie enthält ehrverletzende Behauptungen gegenüber N und verletzt diesen dadurch in seinem Persönlichkeitsrecht.


4.2.4 Keine Sittenwidrigkeit

Eine Abmahnung darf nicht sittenwidrig gem. § 138 BGB sein, da sie ansonsten unwirksam ist. Dies kommt jedoch in der Praxis selten vor und ergibt sich erst aus der Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls (Fußnote).

4.2.5 Wiederholungsgefahr

Eine Abmahnung kann auch deshalb unwirksam sein, weil keine hinreichende Wiederholungsgefahr bezüglich des konkreten Pflichtverstoßes besteht (Fußnote).


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Handbuch zur arbeitsrechtlichen Abmahnung“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Miriam Schwartzer, Rechtsreferendarin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, mit Fußnoten erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-80-9.


Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2017


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Über die Autoren:

Tilo Schindele, Rechtsanwalt

Portrait Tilo-Schindele

Rechtsanwalt Tilo Schindele ist seit 20 Jahren im Arbeitsrecht tätig.
Er prüft, erstellt und verhandelt unter anderem

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Rechtsanwalt Schindele ist Dozent an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart.
Seit 2001 unterrichtet er „Grundzüge im Arbeits- und Insolvenzrecht".

Rechtsanwalt Tilo Schindele hat veröffentlicht:

  • Arbeitnehmerüberlassung, Tilo Schindele und Patricia Netto, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-55-7
  • Die internationale Entsendung von Mitarbeitern, Tilo Schindele und Babett Stoye, LL.B., 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-57-1

Rechtsanwalt Tilo Schindele bereitet derzeit folgende Veröffentlichungen vor:

  • Arbeitnehmer und Scheinselbständigkeit

Rechtsanwalt Tilo Schindele ist Dozent für Arbeitsrecht an der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.
Er bietet Schulungen, Vorträge und Seminare zum Thema:

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  • Arbeitszeitmodelle: Arbeitszeitkonten, Gleitzeit, (Alters-)Teilzeit, Schichtmodelle, Jobsharing
  • Telearbeit aus arbeitsrechtlicher, datenschutzrechtlicher und IT-rechtlicher Sicht
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