Arzthaftung – Teil 12 – Übernahmeverschulden, Organisationsfehler

2.3.4 Übernahmeverschulden

En Übernahmeverschulden durch den Arzt liegt dann vor, wenn er eine medizinische Behandlung durchführt, für die er persönlich nicht geeignet oder nicht qualifiziert ist. Die mangelnde Qualifizierung kann sich durch fehlende fachliche Ausbildung oder nicht vorhandene Spezialisierung ergeben. Ein Übernahmeverschulden liegt auch dann vor, wenn der Arzt an die Grenzen seiner fachlichen Befähigung stößt und eine Weiterüberweisung an einen qualifizierten Arzt unterlässt (Fußnote). Das folgt aus dem Grundsatz, dass der Arzt Behandlungen nur erbringen darf, sofern er über die notwendige Befähigung verfügt. Besondere Bedeutung hat das Übernahmeverschulden bei jungen und unerfahrenen Ärzten, die schneller an ihre fachlichen Grenzen stoßen als erfahrenere Kollegen.
Wobei auch erfahrene Ärzte ein Übernahmeverschulden treffen kann, wenn sie auf einem Fachgebiet arbeiten, für das sie nicht oder nicht ausreichend qualifiziert sind oder wenn sie trotz eigener körperlicher Beeinträchtigungen die Behandlung von Patienten übernehmen.
Einem fachlich bedingten Übernahmeverschulden hat der Arzt durch regelmäßige Weiter- und Fortbildungen vorzubeugen, durch die er sein Wissen regelmäßig aktualisiert. Einem Übernahmeverschulden steht es gleich, wenn der Arzt während der Behandlung merkt, dass er an seine fachlichen Grenzen stößt und es unterlässt einen fachlich versierteren Arzt zu Rate zu ziehen oder den Patienten dorthin zu überweisen.
Ausnahmen gelten für Notfallmaßnahmen, weshalb eine Einzelfallabwägung keinesfalls für die Beurteilung eines Behandlungsfehlers unterbleiben darf.

Beispiel für Übernahmeverschulden
Patient X soll eine Niere entfernt werden, die Operation ist durch die Komplexität des konkreten Falles durch den Chefarzt persönlich geplant. Aufgrund verschiedener Notfälle kommt es allerdings zu Terminschwierigkeiten, weshalb die OP des X zunächst verschoben wird. Da es dem Patienten aber durch die insuffiziente Niere zunehmend schlechter geht, entschließt sich der Oberarzt A, die Operation selbstständig durchzuführen. Er hält dazu weder Rücksprache mit dem Chefarzt, noch holt er sich sonstigen fachlichen Rat hinzu, obwohl er vermutet, dass er für diese OP nicht ausreichend qualifiziert ist. Während der Operation kommt es durch einen Operationsfehler zu starken Komplikationen, durch die der X lebenslang an die Dialyse gebunden sein wird.

  • Der Oberarzt war für die konkrete OP nicht qualifiziert, sodass ihm hier ein Übernahmeverschulden anzulasten ist, aus dem sich auch ein Schaden für den Patienten ergeben hat. Er hätte sich der Haftung entledigen können, indem er Rücksprache mit dem ursprünglich behandelnden Chefarzt gehalten hätte. Wenn dieser, in Kenntnis der Unterqualifikation des Oberarztes, der Operation dennoch zugestimmt hätte, träfe das Übernahmeverschulden den Chefarzt persönlich.
  • Wenn der Oberarzt als Angestellter des Krankenhauses gehandelt hat, ist dem Krankenhausträger dieses Verhalten aus der vertraglichen Haftung zuzurechnen. Das Krankenhaus ist damit der richtige Anspruchsgegner. Daneben kann der Anspruch aus Delikt geltend gemacht werden. Dieser ist gegen den Krankhausträger zu richten und daneben gegen den Oberarzt.

2.3.5 Organisationsfehler

Die ordnungsgemäße Organisation und Überwachung von personellen und strukturellen Arbeitsabläufen ist von der Art der gebotenen, dem medizinischen Standard entsprechenden Behandlung voll umfasst. Hierunter fallen die Planung der Arbeitskräfte und deren Überwachung ebenso wie Verantwortung dafür, dass das Personal über die körperliche und fachliche Kompetenz für die ihm konkret gestellten Aufgaben verfügt.

Beispiel für Organisationsfehler
Die Auszubildende Y wird von Oberarzt O dazu angewiesen, Patient X Blut abzunehmen. Y hat dies noch nie gemacht und O informiert sich auch nicht über ihren Kenntnisstand. X kommt dabei zu Schaden.

  • Der Arzt ist dafür verantwortlich, dass das Personal den gestellten Anforderungen gewachsen ist und die korrekte Ausführung zu überwachen. Das bedeutet nicht, dass er jeder Blutabnahme beiwohnen muss, sondern vielmehr, dass er insbesondere Auszubildende so lange nicht damit alleine lassen darf, wie er sich nicht sicher ist, dass derjenige über genügend Routine verfügt. O als Aufsichtsperson der Y ist hier der Verantwortliche und muss für den Schaden, der dem X entsteht, mithaften.
    Die Organisation muss so ablaufen, dass sich hieraus keine Gefährdung für den Patienten ergeben kann. Der Organisationsfehler stellt dabei keinen Behandlungsfehler im ursprünglichen Sinn dar, führt aber ebenso zu einer Haftung des Arztes bzw. Krankenhausträgers.

Unter die Pflicht der ordnungsgemäßen Organisation fällt auch die korrekte Arbeitsteilung. Die Arbeitsteilung findet in horizontaler Ebene zwischen verschiedenen Fachbereichen und in vertikaler Ebene hierarchisch zwischen unterschiedlich qualifiziertem Personal statt. Die horizontal zusammenwirkenden Ärzte der unterschiedlichen Fachgebiete stehen sich gleichgeordnet gegenüber, wobei sie jeweils auf die ordnungsgemäße, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung durch die anderen Ärzte vertrauen dürfen und nicht die Behandlungsschritte der anderen im Einzelnen überprüfen müssen (Fußnote). Liegt allerdings ein begründeter Verdacht eines Behandlungsfehlers in der vorangegangenen Behandlung vor, muss der daraufhin behandelnde Arzt dem nachgehen und darf seine Behandlung nicht ungefragt fortsetzen. Dadurch sollen weitere Schäden an der Gesundheit des Patienten vermieden werden.

Horizontale Arbeitsteilung

  • Facharzt für Chirurgie (Fußnote) - Facharzt für Anästhesie - Facharzt für Urologie
    Alle drei stehen sich im Rahmen der Behandlung auf Augenhöhe gegenüber und dürfen auf die ordnungsgemäße Durchführung der Behandlung durch den jeweils anderen vertrauen.

Im Rahmen der vertikalen Arbeitsteilung stehen sich die Mitarbeiter, die in die Behandlung einbezogen sind, nicht auf Augenhöhe gegenüber, sondern unterscheiden sich durch unterschiedliche Qualifikation und damit auch Verantwortung. Darunter fällt in der Regel die Hierarchie zwischen den Ärzten und den ihnen unterstellten Pflegekräften. Diese werden regelmäßig über ihren Arbeitsvertag dem Arbeitgeber zugerechnet, der entweder in der Person des Arztes selbst oder im Krankenhausträger bestehen kann. Der Arbeitgeber haftet für das Verhalten seiner Mitarbeiter aus § 278 BGB. Etwas anderes kann sich im Rahmen der Zurechnung ergeben, wenn innerhalb der Behandlung der Belegarzt eine besondere ärztliche Weisungskompetenz innehat. Dann ist die Pflegekraft dem behandelnden Belegarzt zuzurechnen und er haftet für ihr Verhalten, unabhängig davon, dass der Krankenhausträger der Arbeitgeber des Pflegepersonals ist. Hierbei sind die Verantwortungsbereiche im Rahmen der Behandlung deutlich voneinander abzugrenzen.

Vertikale Arbeitsteilung

  • Chefarzt, ist übergeordnet dem:
  • Oberarzt, ist übergeordnet dem:
  • Assistenzarzt, ist übergeordnet dem:
  • Pflegepersonal

Der Chefarzt trägt die Verantwortung für das ihm unterstellte Personal und haftet für deren Fehlverhalten, soweit es sich um solches handelt, das mit dem Inhalt der Weisung in einem inneren Zusammenhang steht (Fußnote). Für Fehlverhalten, das völlig von den Grundregeln der Zusammenarbeit abweicht, haftet der Handelnde jeweils selbst. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Pflegepersonal es unterlässt, bei eintretenden Komplikationen einen Arzt zu verständigen oder sich wider besseres Wissen an telefonische Anweisungen durch den Arzt hält, die im konkreten Fall nicht geboten sind. In diesem Fall haftet der Arzt, der die Anweisung erteilt hat gemeinsam mit demjenigen, der die nicht gebotene Behandlung durchgeführt hat.


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Arzthaftung - Nachweis und Durchsetzung von Ansprüchen bei ärztlichen Behandlungsfehlern“ von Michael Kaiser, Rechtsanwalt, und Magdalena Mahrenholtz, wissenschaftliche Mitarbeiterin, mit Fußnoten erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-86-1.


Kontakt: kaiser@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2018


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Über die Autoren:

Michael Kaiser, Rechtsanwalt

Portrait Michael-Kaiser

Michael Kaiser berät und vertritt seit vielen Jahren Patienten, Ärzte und Gesundheitsorganisationen bei Rechtsfragen um Arztrecht/Medizinrecht.
Er vertritt Krankenversicherungsnehmer bei der Durchsetzung von Ansprüchen auf Krankenversicherungsleistungen gegen Krankenkassen. Insbesondere die Übernahme der Kosten für neue, vielversprechende, aber noch nicht anerkannte Behandlungsmethoden durch die Krankenkassen liegt ihm am Herzen.
Er vertritt Patienten und Ärzte bei Arzthaftungsfällen. Er vertritt Ärzte beim Streit um die Vergütung bei Kassen- oder Privatpatienten und bearbeitet berufs- und standesrechtliche Fragestellungen, z.B. die Grenzen zulässiger Werbung, patent- und markenrechtliche Probleme oder Regressansprüche der Kassenärztlichen Vereinigung.
Michael Kaiser begleitet Ärzte bei der Gründung und Auseinandersetzung von Gemeinschaftspraxen und Praxisgemeinschaften sowie bei der Praxisnachfolge.

Rechtsanwalt Michael Kaiser hat veröffentlicht:

  • Arztpraxis – Kauf und Übergang, Harald Brennecke und Michael Kaiser, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-54-0

Rechtsanwalt Michael Kaiser ist Dozent für Arztrecht/Medizinrecht an der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.
Er bietet Schulungen, Vorträge und Seminare unter anderem zu den Themen:

  • Arzthaftung: Die Haftung des Arztes für Behandlungsfehler
  • Die Ärztegesellschaft: Gemeinschaftspraxis und Praxisgemeinschaft
  • Arzthonorar und Kassenärztliche Vereinigung: Abrechnung und Regress
  • Vergütungsansprüche von Ärzten und Therapeuten

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