Int. Vertragsrecht - Teil 33 - Staatliche Eingriffsnormen

7.6 Staatliche Eingriffsnormen

Besteht im Einzelfall ein übergeordnetes öffentliches Interesse der betroffenen Staaten, so kann es in diesen Fällen sein, dass das nach Art. 3 ff Rom I-VO bestimmte Recht hinter das Recht des Staates zurücktritt, in dem sich das zuständige Gericht befindet. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn elementare Ordnungsinteressen des Staates durch die Rechtswahl betroffen sind.[1] Geregelt werden diese staatlichen Eingriffsnormen in Art. 9 (In- und ausländische Eingriffsnormen) und Art. 21 Rom I-VO (Ordre public).

7.6.1 Grundsätzliches

Gem. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO müssen für das Vorliegen einer Eingriffsnorm zwei Voraussetzungen erfüllt sein:

  • Es muss sich bei der Norm zunächst um eine nicht von den Parteien abänderbare, also zwingende Norm des staatlichen Rechts handeln.
  • Die betroffene Norm muss weiterhin nicht nur auf innerstaatliche Sachverhalte anwendbar sein, sondern muss einen sich aus dem Wortlaut oder Zweck der Norm ergebenen internationalen Geltungsanspruch besitzen, der seinen Vorrang auch in kollisionsrechtlichen Fällen unterstreicht.
  • Außerdem muss der Staat die Einhaltung dieser Norm als entscheidend für die Wahrung des öffentlichen Interesses ansehen. Dies ist dann der Fall, wenn die Norm einen am Gemeinwohl orientierten Zweck verfolgt und sich aus dieser Zielsetzung eine vorrangige Anwendung der Norm ergibt.

Liegen diese Voraussetzungen vor, so ist die Norm trotz des durch die Rom I-VO bestimmten Rechts anzuwenden. Da es im Einzelnen fraglich sein kann, ob die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO vorliegen, besitzen die Mitgliedsstaaten bzgl. des Normzwecks einen außerordentlich weiten Beurteilungsspielraum.[2] In der Praxis bedeutet das, dass die Staaten grundsätzlich selbst entscheiden können, welche Vorschriften ihres Rechts sie dem internationalen Kollisionsrecht unterstellen.

7.6.2 Inländische Eingriffsnormen

Im Bereich der Eingriffsnormen wird zwischen zwei Arten unterschieden: Den inländischen und den ausländischen Eingriffsnormen. Erstere werden von Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO geregelt. Danach sind die Eingriffsnormen des Staats, in dem sich das angerufene Gericht befindet (lex fori) auch dann auf den Vertrag anzuwenden, wenn sich nach der Rechtswahl der Parteien oder mittels objektiver Anknüpfung ein anderes Recht ergibt.

Inländische Eingriffsnormen sind insbesondere öffentlich-rechtliche Vorschriften. Für Deutschland relevant sind:[3]

  • Berufs- und Gewerberecht
  • Devisenbewirtschaftungsrecht
  • Embargobestimmungen
  • Kapitalmarktrecht
  • Sozialrechtliche Bestimmungen
  • Regelungen des Grundstücksverkehrs
  • Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit
  • Außenwirtschaftliche Bestimmungen.

7.6.3 Ausländische Eingriffsnormen

Während dies früher nach der EVÜ noch ausgeschlossen war, besteht für deutsche Gerichte nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO nun erstmals die Möglichkeit auch ausländischen Eingriffsnormen den Vorrang vor dem nach der Rom I-VO bestimmten Vertragsrecht einzuräumen. Allerdings kommt dafür nicht jede ausländische Eingriffsnorm in Frage. Vielmehr muss es sich um eine Eingriffsnorm des Staates handeln, in dem die vertraglich vereinbarte Leistung erfüllt werden soll. Ob das Recht am Erfüllungsort dabei auf den rechtlich vereinbarten Erfüllungsort abstellt oder den, an dem tatsächlich geleistet worden ist, ist bislang allerdings noch nicht höchstrichterlich geklärt worden.

Weitere Voraussetzung für die Wirksamkeit ausländischer Eingriffsnormen betreffen die von ihnen ausgehende Rechtsfolge. Nur wenn es sich um Verbotsnormen handelt durch die die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig wird, können sie vor inländischen Gerichten vorrangige Wirkung eingeräumt bekommen. Davon sind insbesondere umfasst:[4]

  • Börsenverkehr- und Anlegerschutzregelungen
  • Bodenverkehrsvorschriften
  • Regelungen zur Berufstätigkeit
  • Bestimmungen zum Schutz von Kulturgütern.

Nicht umfasst sind folglich ausländische Normen, die nur inhaltliche Modifikationen darstellen oder die Schutz-, Neben- oder Informationspflichten betreffen, auch wenn sie als Eingriffsnormen formuliert sind und vor ihren eigenen Gerichten Vorrang genießen würden.

Wie sich aus der Formulierung "kann" des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ergibt, sind inländische Gerichte nicht dazu verpflichtet, ausländische Eingriffsnormen anzuwenden. Im Gegensatz zu früher besteht lediglich die Möglichkeit diese nach eigenem Ermessen auf den verhandelten Fall anzuwenden. Gem. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 Rom I-VO sollen die Gerichte dafür untersuchen, ob die inländische Rechtsordnung bzw. die internationale Rechtsgemeinschaft den Normzweck der ausländischen Eingriffsnorm unterstützen. Letzteres gilt bspw. unzweifelhaft für wegen Völkerrechtsverstößen von den Vereinten Nationen ergangen wirtschaftlichen Embargos.

7.6.4 Sonderfall: Ordre Public

Einen Sonderfall staatlicher Eingriffsnormen betrifft den in Art. 21 Rom I-VO geregelten Ordre Public-Vorbehalt. Nationale Gerichte können in Fällen, in denen das nach Art. 3 ff Rom I-VO (also durch Rechtswahl, objektive Anknüpfung etc.) ermittelten Rechts "offensichtlich" unvereinbar mit der öffentlichen Ordnung des Staates ist, die Anwendung dieses Rechts verweigern und stattdessen Normen ihrer eigenen Rechtsordnung auf den Vertrag anwenden. Dies kann aber nur ausnahmsweise der Fall sein, wenn die Folgen der Rechtswahl die tragenden Grundlagen des sozialen, wirtschaftlichen oder staatlichen Lebens untergraben werden.[5] Dies gilt insbesondere dann, wenn die Anwendung des Rechts einen Grundrechtsverstoß nach sich ziehen würde.

In der Praxis ist Art. 21 Rom I-VO wenig relevant, da Art. 5 - 8 Rom I-VO bereits einen immanenten Schutz der unterlegenen Vertragspartei beinhalten und Art. 9 Rom I-VO zudem eine Eingriffsnorm zur Wahrung des öffentlichen Interesses beinhaltet.


[1] Erwägungsgrund Nr. 37 Rom I-VO.

[2] Güllemann, Internationales Vertragsrecht, 2. Auflage 2014, S. 112.

[3] Vgl. Palandt/Thorn Art. 9 Rom I-VO Rn 7 – 10.

[4] Vgl. Reithmann/Martiny/Freitag Rn 654 ff.

[5] BGHZ 28, 376.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Internationales Vertragsrecht“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Tim Hagemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-88-5.


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Stand: Januar 2018


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Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Stuttgart

Portrait Tilo-Schindele

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