Int. Vertragsrecht - Teil 23 - Versicherungsverträge II

6.3.4 Massenrisiken

Liegt ein Versicherungsvertrag vor, der nicht die Anforderungen des Art. 7 Abs. 2 Rom I-VO erfüllt, so gelten für ihn die leider ausgesprochen komplexen Regelungen des Art. 7 Abs. 3 Rom I-VO über Massenrisiken. In diese Kategorie fallen vor allem Versicherungsverträge, die mit Verbrauchern, mittleren oder kleinen Unternehmen abgeschlossen werden. Davon erfasst werden bei Unternehmen insbesondere alle Arten von Schadensversicherungen, bei Verbrauchern zusätzlich auch Personenversicherungsverträge.

Da sich der Versicherungsnehmer bei Massenrisiken gegenüber den großen Versicherungsunternehmen häufig in der schwächeren Position befindet, wird die Rechtswahl der Parteien von Art. 7 Abs. 3 Satz 1 lit. a - e Rom I-VO zu ihren Gunsten beschränkt. Wählbar sind ausschließlich:

  • Das Recht am Ort der Risikobelegenheit (lit. a)
  • Das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers (lit. b)
  • Bei Lebensversicherungen: Das Recht des Mitgliedsstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Versicherungsnehmer besitzt (lit. c)
  • Bei Schadensfällen, die nur in einem anderen als dem Staat eintreten können, in dem das Risiko belegen ist: Das Recht am Ort des Schadenseintritts (lit. d)
  • Bei Versicherungsverträgen, die min. zwei in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten belegene Risiken aus gewerblicher/industrieller/freiberuflicher Tätigkeit abdecken: Das Recht eines betroffenen Mitgliedsstaats oder der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherungsnehmers (lit. e).

Haben die Parteien keine Rechtswahl getroffen, so ist gem. Art 7 Abs. 3 Satz 3 Rom I-VO das Recht des Mitgliedsstaats anzuwenden, in dem das Risiko belegen ist. Ausschlaggebender Zeitpunkt ist hierbei der Vertragsschluss, es ist also irrelevant ob der Ort der Risikobelegenheit sich danach noch einmal verändert.

Beispiel
Das kleine Unternehmen A aus Memmingen schließt bei der Generali Versicherung (Hauptsitz in Rom) eine Gebäudeversicherung für eine in ihrem Eigentum stehende Immobilie in Mailand ab. Welches Recht können die Parteien für den Vertrag wählen? Welches Recht kommt bei mangelnder Rechtswahl zur Anwendung?

  • Da der Vertrag kein Großrisiko iSd Art. 7 Abs. 2 Rom I-VO betrifft gelten für ihn die Regelungen für Massenrisiken gem. Art. 7 Abs. 3 Rom I-VO. Dies beschränkt die Rechtswahl der Parteien auf die in lit. a - e definierten Rechtsordnungen. So ist einerseits italienisches Recht wählbar (lit. a), da sich dort die Immobilie befindet, andererseits deutsches Recht, da der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherungsnehmers in Deutschland liegt (lit. b).
  • Haben die Parteien keine Rechtswahl vereinbart oder ist diese unwirksam, so findet gem. Art. 7 Abs. 3 Satz 3 Rom I-VO das Recht des Staates anzuwenden, in dem das Risiko zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses belegen ist. Da sich die zu versichernde Immobilie in Italien befindet, ist bei fehlender Rechtswahl italienisches Recht anzuwenden.

6.3.5 Pflichtversicherungen

Unabhängig davon, ob es sich bei dem Versicherungsvertrag um ein Groß- oder Massenrisiko handelt, gelten besondere Regeln, wenn es sich dabei um einen Pflichtversicherungsvertrag handelt. Darunter versteht man Versicherungsverträge, für die ein Mitgliedsstaat eine Versicherungspflicht vorschreibt, in Deutschland also bspw. die Haftpflichtversicherungspflicht für Kraftfahrzeuge.

Liegt eine Pflichtversicherung vor, so ergibt sich das anwendbare Recht je nach Risikotyp zunächst aus Art. 7 Abs. 2 und 3 Rom I-VO. Die auf Pflichtversicherung zusätzlich anzuwendenden Regelungen des Art. 7 Abs. 4 Rom I-VO räumen aber den Mitgliedsstaaten größere Gestaltungsfreiheit bei der Ausgestaltung von Versicherungspflichten ein. Aus Abs. 4 ergeben sich zwei Besonderheiten, die es zu beachten gilt:

Zum einen genügt der Versicherungsvertrag der Versicherungspflicht nur, wenn er den vom Staat vorgeschriebenen Bestimmungen für diese Versicherung entspricht. Widersprechen sich das Recht des Staates, in dem das Versicherungsrisiko belegen ist und das Recht des Staates, der die Versicherungspflicht auferlegt, so genießt letzteres Recht Vorrang.

Zum anderen können die Mitgliedsstaaten der Rom I-VO abweichend von Art. 7 Abs. 2 und 3 Rom I-VO vorschreiben, dass auf den Pflichtversicherungsvertrag das Recht des Staats anzuwenden ist, der die Versicherungspflicht vorsieht. Auch Deutschland hat von diesem Recht Gebrauch gemacht: Gem. Art. 46c Abs. 2 EGBGB findet auf Pflichtversicherungsverträge deutsches Recht Anwendung, sofern die Versicherungspflicht auf deutschem Recht beruht.

Beispiel
Ein kleines Unternehmen mit Sitz in Turin besitzt einen Fuhrpark mit mehreren Kraftfahrzeugen. Eines davon soll in Deutschland zugelassen und dort auch dauerhaft verwendet werden. Zu diesem Zweck schließt das Unternehmen mit der Turiner Filiale der Generali Versicherung eine italienischem Recht unterstehende Haftpflichtversicherung über den Kfz ab. Ist die Wahl italienischen Rechts zulässig?

  • Da die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 Rom I-VO nicht erfüllt sind, handelt es sich bei dem Vertrag um ein versichertes Massenrisiko. Gem. Art. 7 Abs. 3 Satz 1 lit. b Rom I-VO kann für Massenrisiken das Recht vereinbart werden, das am gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers gilt. Da das Unternehmen seinen Sitz in Turin hat wäre die Vereinbarung von italienischem Recht also zulässig.
  • § 1 Pflichtversicherungsgesetz bestimmt jedoch, dass für alle Kfz, die in Deutschland zugelassen werden sollen eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen werden muss. Nach den zusätzlichen Vorschriften des Art. 7 Abs. 4 Rom I-VO kann ein Mitgliedsstaat vorschreiben, dass auf den Pflichtversicherungsvertrag das Recht des Staats anzuwenden ist, der die Versicherungspflicht vorsieht. Dies geschieht in Deutschland durch Art. 46c Abs. 2 EGBGB, der für Pflichtversicherungsverträge zwingend die Anwendung deutschen Rechts vorschreibt. Die Wahl von italienischem Recht ist daher nicht zulässig.


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Internationales Vertragsrecht“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Tim Hagemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-88-5.


Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2018


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Über die Autoren:

Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Stuttgart

Portrait Tilo-Schindele

Rechtsanwalt Schindele begleitet IT-Projekte von der Vertragsgestaltung und Lastenheftdefinition über die Umsetzung bis hin zur Abnahme oder Gewährleistungs- und Rückabwicklungsfragen.

Tilo Schindele ist Dozent für IT-Recht und Datenschutz bei der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.

Er bietet Seminare und Vorträge unter anderem zu folgenden Themen an:

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