Arzthaftung - Teil 19 - Grobe Behandlungsfehler

5.5.2 Grobe Behandlungsfehler durch Nichterheben von Diagnose- und Kontrollbefunden

Ein grober Behandlungsfehler kann seiner Erscheinung nach durch ein Tun oder auch durch ein Unterlassen begangen werden. Ein grober Behandlungsfehler durch Unterlassen liegt zumeist dann vor, wenn der Arzt es trotz gefestigter Regeln der Medizin unterlässt, bestimmte Befunde zu erheben oder auch eine angezeigte Behandlung durchzuführen. Diese Fallgruppe zeichnet sich dadurch aus, dass im Ergebnis zumeist nicht feststeht, was sich für ein Befund bei richtiger Erhebung ergeben hätte und damit unklar bleibt, was für eine Entwicklung der Behandlungsverlauf durch diese Erhebung gehabt hätte. Es kann nicht festgestellt werden, ob und welche positiven Auswirkungen die möglicherweise durchzuführenden Maßnahmen gehabt hätten. Diese gesammelten Unklarheiten ergeben für den Patienten erhebliche Beweisschwierigkeiten. Dem wird dadurch Rechnung getragen, dass bei der Qualifizierung als grober Behandlungsfehler die Beweislast umgekehrt wird und der Arzt beweisen muss, dass sein Verhalten nicht kausal geworden ist für die Schädigung des Patienten.
Beim groben Befunderhebungsfehler ist weiterhin zu differenzieren zwischen der bloßen Nichterhebung, die ihrerseits bereits unverständlich und damit grob fehlerhaft ist, sowie der fehlerhaften Nichterhebung eines Befundes, die ihrerseits einen einfachen Behandlungsfehler darstellt, aber dazu führt, dass keine weitere Behandlung stattfindet, In dem Unterlassen dieser Behandlung kann dann ebenfalls ein grober Behandlungsfehler bestehen. Hierbei ist eine Abstufung notwendig.

Beispiel für schrittweise Haftung aus einem Aufklärungsfehler
Patient X leidet unter starken Schmerzen in der Brust mit deutlichen Anzeichen eines Herzinfarktes in die Praxis des Arztes A. Der A fertigte ein EKG des X an, dass er später mit ihm besprechen wollte. Dies war dann allerdings nicht mehr möglich, weil der X, nachdem er die Praxis verlassen hatte, einen - wie sich später herausstellte- weiteren Infarkt erlitten hatte. Die Rechtsnachfolger des X nahmen daraufhin den A in Anspruch. Im Prozess war eine Auswertung des EKG sodann nicht möglich, weil dieses nicht mehr aufzufnden war (BGH VersR 1996, 1589).

  • Als erste Stufe der Beweiserleichterung wurde hier angenommen, dass das EKG ein Ergebnis gezeigt hätte, dass den A zu einer kurzfristig eingeleiteten Therapiemaßnahme veranlasst hätte. Allerdings ließ sich durch diese Annahme der kausale Zusammenhang zwischen dem Tod des X und der fehlerhaft unterlassenen Behandlung des A nicht feststellen.
  • Auf der zweiten Stufe allerdings wurde ein grober Behandlungsfehler deshalb bejaht, weil durch die von X beschriebenen Symptome dem A die Behandlungsbedürftigkeit so klar hätte sein müssen, dass die Auswertung des EKG nichts anderes zugelassen hätte. Die Rechtsnachfolger des X mussten hier also nicht den Beweis über die Kausalität zwischen dem Unterlassen und dem Todeseintritt führen, weil diese durch den groben Behandlungsfehler angenommen werden durfte.

Ist bereits der Behandlungsfehler an sich als grob einzustufen, ist eine solche Abstufung nicht möglich bzw. notwendig.

Beispiele für grobe Befunderhebungsfehler

  • Das Unterlassen einer Wundkontrolle trotz Temperaturanstiegs des Patienten. Das Verkennen der Infektionsmöglichkeit ist schon für sich unverständlich.
  • Die unterlassene Ultraschalldiagnostik bei der stationären Aufnahme einer Schwangeren zur Entbindung. Eine solche Untersuchung zur Kontrolle durchzuführen erscheint selbst dem Laien selbstverständlich, sodass ihr Unterlassen durch den Arzt nur als unverständlich angesehen werden kann.
  • Eine unterbliebene Röntgenuntersuchung, die von dem zuvor behandelnden Arzt ausdrücklich empfohlen worden war. Wenn keine konkreten Hinderungsgründe bestehen, erscheint es unverständlich und nicht vertretbar die Hinweise eines ärztlichen Kollegen einfach zu ignorieren.
  • Die Nicht-Vornahme von regelmäßigen Kontrollen eines Herzschrittmachers. Gerade bei dem Einsatz technischer Geräte an sensiblen Regionen wie dem Herzen erscheint das Unterlassen von Kontrollen unverständlich.

Einem groben Befunderhebungsfehler steht es gleich, wenn dem Patienten die Unterlagen über die Befunde vorenthalten werden. Auch hier wird die Beweislast aus Billigkeitsgründen erleichtert. Dabei ist davon auszugehen, dass die Beweislast nur so weit erleichtert wird, dass der Patient nicht besser dasteht, als wenn die Befunde erhoben worden wären.


5.5.3 Grobe Therapiefehler

Neben der fehlerhaften Diagnose kann auch die Therapie der Erkrankung fehlerhaft sein. Ein grober Therapiefehler verlangt wieder ein völlig unverständliches Verhalten des Arztes. Das liegt vor, wenn der Arzt eine Behandlung unterlässt, obwohl eindeutige Indikationen vorliegen oder wenn er standardisierte Behandlungen, die mit minimalem Aufwand Risiken eindämmen können, unterlässt.

Beispiele für grobe Therapiefehler

  • Die Anordnung von Bewegungsübungen nach einer Armoperation, wenn hier die Gefahr besteht, dass sich die zur Fixierung angebrachten Drähte hierbei verschieben (BGH NJW 1986, 1540).
  • Das Unterlassen der Korrektur eines Hodenhochstandes bei einem Säugling im Rahmen einer notwendigen Leistenoperation (OLG München VersR 1997, 577).
  • Das Vergessen von Operationstüchern im Bauchraum nach einer Bauchoperation.

5.5.4 Grobe Behandlungsfehler durch Unterlassen der erforderlichen Aufklärung

Die Umkehrung der Beweislast durch das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers findet auch dann statt, wenn eine grobe Verletzung der Pflicht zur therapeutischen Aufklärung vorliegt. Auch ist im Hinblick auf die immer weiter steigende Bedeutung von medizinischen Vorsorgemaßnahmen davon auszugehen, dass unterlassene Hinweise auf bestehende Vorsorgemöglichkeiten in Zukunft vermehrt als grobe Behandlungsfehler gewertet werden.

Beispiele für grobe Behandlungsfehler durch unterlassene Aufklärung

  • Bei einer an Brustkrebs erkrankten Frau der, im Rahmen einer Brustkrebsvorsorgebehandlung zwei Jahre zuvor, unterlassene Hinweis auf die Möglichkeit eines Mammographie-Screenings. Entscheidend war hier zusätzlich, dass es der Patientin in vorherigen Behandlungen explizit auf die Minimierung jedes Brustkrebsrisikos ankam (OLG Hamm MedR 2014, 103).
  • Die nicht erfolgte Aufklärung über einen erhobenen bedrohlichen Befund, dessen Nicht-Behandlung schwerwiegende Konsequenzen für den Patienten hat.

5.5.5 Grobe Organisationsfehler

Ein grober Behandlungsfehler kann auch in Form eines groben Organisationsfehlers vorliegen. Dies ist zumeist dann der Fall, wenn der Arzt oder das behandelnde (Pflege-) Personal für die konkrete Behandlung unterqualifiziert sind oder aber, wenn Apparate, die in der Behandlung verwendet werden fehlerhaft oder ungenügend überprüft sind. Hierunter fallen die regelmäßige Wartung und Instandhaltung aller Gerätschaften. Ebenfalls kann eine Übertragung einer Behandlung oder Operation an einen Berufsanfänger grob fehlerhaft sein, wenn eine Beaufsichtigung unterbleibt. Auch hier muss das Verhalten des Arztes objektiv medizinisch betrachtet unverständlich sein, um als "grob fehlerhaft" qualifiziert zu werden. Grund für diese Qualifizierung, deren Konsequenz eine Beweislasterleichterung für den Patienten ist, ist die unverständliche Gefahrerhöhung. Auch dann, wenn ein fehlerhaftes Verhalten keiner bestimmten Person zugeordnet werden kann, müssen die leitenden Ärzte bzw. Krankenhausträger das Risiko der Unaufklärbarkeit der Fehlbehandlung tragen.

Beispiel

  • Die Unterschreitung der hygienischen Standards, um Geld zu sparen, ist so unverständlich, dass dies als grober Organisationsmangel verstanden werden muss.
  • Ebenso die durch eine Nachtschwester durchgeführte Überwachung eines CTG, die zu einer Verkennung von Auffälligkeiten führt, für die im Weiteren der Krankenhausträger einzustehen hat.


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Arzthaftung - Nachweis und Durchsetzung von Ansprüchen bei ärztlichen Behandlungsfehlern“ von Michael Kaiser, Rechtsanwalt, und Magdalena Mahrenholtz, wissenschaftliche Mitarbeiterin, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-86-1.


Kontakt: kaiser@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2018


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Über die Autoren:

Michael Kaiser, Rechtsanwalt

Portrait Michael-Kaiser

Michael Kaiser berät und vertritt seit vielen Jahren Patienten, Ärzte und Gesundheitsorganisationen bei Rechtsfragen um Arztrecht/Medizinrecht.
Er vertritt Krankenversicherungsnehmer bei der Durchsetzung von Ansprüchen auf Krankenversicherungsleistungen gegen Krankenkassen. Insbesondere die Übernahme der Kosten für neue, vielversprechende, aber noch nicht anerkannte Behandlungsmethoden durch die Krankenkassen liegt ihm am Herzen.
Er vertritt Patienten und Ärzte bei Arzthaftungsfällen. Er vertritt Ärzte beim Streit um die Vergütung bei Kassen- oder Privatpatienten und bearbeitet berufs- und standesrechtliche Fragestellungen, z.B. die Grenzen zulässiger Werbung, patent- und markenrechtliche Probleme oder Regressansprüche der Kassenärztlichen Vereinigung.
Michael Kaiser begleitet Ärzte bei der Gründung und Auseinandersetzung von Gemeinschaftspraxen und Praxisgemeinschaften sowie bei der Praxisnachfolge.

Rechtsanwalt Michael Kaiser hat veröffentlicht:

  • Arztpraxis – Kauf und Übergang, Harald Brennecke und Michael Kaiser, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-54-0

Rechtsanwalt Michael Kaiser ist Dozent für Arztrecht/Medizinrecht an der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.
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