Verkehrsordnungswidrigkeiten - Teil 15 - Missachtung der Vorfahrt

5.3 Missachtung der Vorfahrt

Bereits bei der Führerscheinprüfung wird das jedem Fahrzeugführer eingeschärft: Verstößt man gegen die Vorfahrtsregelungen fällt man geradewegs durch die Führerscheinprüfung. Die Beachtung der Vorfahrt ist eine der wichtigsten Verkehrsregeln. Bei einem Verstoß wird die Vorfahrtsmissachtung im Verkehrsordnungswidrigkeitenrecht mit einem Bußgeld zwischen 10,00 EUR und 360,00 EUR, sowie 2 Punkten und 1 Monat Fahrverbot geahndet.

Vorfahrt bedeutet, man darf zuerst fahren, d.h. man kann also "vor" dem anderen Verkehrsteilnehmer auf oder in eine bestimmte Fahrbahn beziehungsweise Richtung fahren.

5.3.1 Die Vorfahrtsregeln

Die gesetzliche Regelung zur Vorfahrt findet sich in § 8 StVO mit dem Grundsatz "Rechts vor Links". Danach hat an Kreuzungen und Einmündungen derjenige Vorfahrt, der von rechts kommt (§ 8 Abs. 1 S. 1 StVO). Dabei versteht man unter einer Kreuzung auch eine Stelle an der ein gemeinsamer Geh- und Radweg und eine ohne Beschränkung dem Fahrzeugverkehr gewidmete Straße aufeinandertreffen (OLG Karlsruhe, Urteil vom 30. Mai 2012, Az.: 1 U 193/11).

Die Ausnahmen zu "Rechts vor Links" finden sich in § 8 Abs. 1 S. 2 StVO. Danach gilt diese Regel nicht,

  • wenn die Vorfahrt durch Verkehrszeichen besonders geregelt ist oder
  • für Fahrzeuge, die aus einem Feld- oder Waldweg auf eine andere Straße kommen.

Eine besondere Bestimmung gibt es außerdem beim Kreisverkehr (§ 8 Abs. 1 a StVO): Ist nämlich an der Einmündung in einen Kreisverkehr mit einem Verkehrszeichen "Vorfahrt gewähren" angeordnet, hat der Verkehr auf der Kreisfahrbahn Vorfahrt. Außerdem ist auch die Benutzung des Blinkers bei der Einfahrt in einen solchen Kreisverkehr unzulässig.

5.3.2 Verhaltensregeln bei der Vorfahrt

Für richtiges Fahrverhalten bei der Vorfahrtsbeachtung erteilt § 8 Abs. 2 StVO Anweisungen für den Wartepflichtigen. Danach muss derjenige, der die Vorfahrt zu beachten hat, rechtzeitig durch sein Fahrverhalten, erkennen lassen, dass er wartet. Also zum Beispiel dadurch, dass er seine Geschwindigkeit mäßigt.

Es darf dann nur weitergefahren werden, wenn man übersehen kann, dass der Vorfahrtsberechtigte, weder gefährdet noch wesentlich behindert wird. Derjenige der die Vorfahrt hat, darf insbesondere auch beim Abbiegen nicht wesentlich durch den Wartepflichtigen behindert werden.

Die Wartepflicht besteht aber nur gegenüber den Vorfahrtsberechtigten, die man auch sehen kann und die sich im Sichtbereich befinden (vgl. Schröder in: Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht Kommentar, §8 STVO, Rn 8). Das heißt, kann man zum Beispiel aufgrund einer Kurve bei einer Einmündung einen anderen Autofahrer nicht sehen und biegt daher ein, verstößt man noch nicht gegen die Wartepflicht, wenn der bevorrechtigte Autofahrer noch nicht in das eigene Sichtfeld geraten ist (OLG Saarbrücken, 12.10.2010, Az.: 4 U 110/10).

Nur wenn eine Straßenstelle unübersichtlich ist, darf man sich nur vorsichtig in die Kreuzung oder Einmündung hineintasten, bis die Übersicht gegeben ist. Je nach der Situation kann das bedeuten, dass man sich lediglich zentimeterweise bis zum Übersichtspunkt vorzurollen hat, damit man die Möglichkeit zum sofortigen anhalten hat (BGH, Urt. v. 21.5.1985, Az.: VI ZR 201/83, KG Berlin 28.01.2010, Az.: 12 U 40/09; OLG Saarbrücken, 12.10.2010, Az.: 4 U 110/10).

Beispiel
Die Autofahrerin A will mit ihrem Pkw von dem Großparkplatz eines Einkaufsmarktes, auf eine vorfahrtsberechtigte Hauptstraße abbiegen und fährt dazu die Ausfahrt des Parkplatzes hinunter. Sie übersieht dabei den Radfahrer R der sich auf dem Radweg entlang der Hauptstraße in Fahrtrichtung nähert und kollidiert mit R.

  • A hat hier einen Vorfahrtsverstoß begangen, da sie den vorfahrtsberechtigten R nicht beachtet hat. Das Vorfahrtsrecht erstreckt sich nämlich auf die ganze Breite der Straße und schließt neben der Fahrbahn entlangführende Radwege mit ein (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 14.02.1977, Az.: 1 Ss [B] 463/76 –, VRS 53, 301). A war wartepflichtig und hätte vor dem Radweg bereits anhalten müssen und sich vergewissern, dass kein vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer gefährdet wird.

5.3.3 Vertrauensschutz des Vorfahrtsberechtigten

Ein Vorfahrtberechtigter darf grundsätzlich auf die Beachtung seiner Vorfahrt vertrauen (OLG Karlsruhe, Urteil vom 30. Mai 2012, Az.: 1 U 193/11).

Dieser Vertrauensschutz gilt jedoch nicht ausnahmslos. Ein Fahrzeugführer darf sich nämlich dann nicht auf die Beachtung seiner Vorfahrt verlassen, wenn konkrete Umstände Anlass zu der Befürchtung geben, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer die Vorfahrt verletzt. Solche Umstände können nicht nur in dem Verhalten anderer zu erkennen sein, sondern auch an den örtlichen Verhältnissen liegen. So zum Beispiel bei einer extrem unübersichtlichen Kreuzung, wenn keiner der beiden Verkehrsteilnehmer den anderen wegen der örtlichen Bebauung sehen kann, bis er sich bereits in der Kreuzung selbst befindet. In einem solchen Fall gebietet das Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 1 StVO, dass sogar der Vorfahrtsberechtigte sich dem Kreuzungsbereich vorsichtig nähert und nicht blind auf seine Vorfahrt vertraut (OLG Karlsruhe, Urteil vom 30. Mai 2012, Az.: 1 U 193/11).

Beispiel
Der Autofahrer A fährt auf einer Vorfahrtsstraße in der Innenstadt mit 50 km/h. Bei der nächsten Kreuzung will er links in die Haidstraße abbiegen. Als er an die Kreuzung kommt sieht er das der Autofahrer B an der Haltelinie der Haidstraße steht und den Blinker bereits gesetzt auf die Vorfahrtsstraße in Fahrtrichtung des A auffahren will. A nimmt an das B ihm seine Vorfahrt gewährt, doch gerade als er nach links abbiegt, biegt B ebenfalls in die Vorfahrtsstraße ein und es kommt in der Fahrbahnmitte zur Kollision.

  • Hier hat B einen Vorfahrtsverstoß begangen, da er nicht gewartet hat, bis der vorfahrtsberechtigte A abgebogen ist. A konnte hier auf sein Vorfahrtsrecht vertrauen, da der wartepflichtige B für ihn sichtbar war und das Verhalten des Wartepflichtigen die Gefahr der Missachtung der Vorfahrt nicht erkennen ließ (vgl. OLG Naumburg, Urt. v. 05.11.1992, Az.: 4 U 26/92).


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Ordnungswidrigkeiten im Verkehr“ von Michael Kaiser, Rechtsanwalt, und Kristin Nözel, Volljuristin Dipl. jur. (Univ.), juristisch Fachautorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-84-7.


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Stand: Januar 2018


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