Arzthaftung - Teil 14 - Sorgfaltsmaßstab, Therapiefreiheit

2.4 Ärztlicher Sorgfaltsmaßstab

Grundsätzlich haftet der Arzt für vorsätzliches und fahrlässiges Verhalten, wobei im Regelfall davon ausgegangen werden darf, dass im Rahmen der ärztlichen Behandlung kein vorsätzlich rechtswidriges Verhalten vorliegt. Fahrlässig ist ein Verhalten dann, wenn es die im Verkehr übliche Sorgfalt außer Acht lässt. Die im Verkehr übliche Sorgfalt innerhalb der ärztlichen Behandlung ist zu konkretisieren, sodass Fahrlässigkeit im Sinne des Arzthaftungsrechts das Außer-Acht-Lassen der allgemeinen Sorgfaltsmaßstäbe, sowie auch der anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaft nach § 630a II BGB bedeutet. Die Regeln der medizinischen Wissenschaften stellen den Facharztstandard dar, der konkret formuliert wird in Leitlinien und wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Bei der Bestimmung des Facharztstandards darf trotzdem eine einzelfallabhängige Überprüfung der konkreten Notwendigkeit der Behandlung nicht unterbleiben, was konkret bedeutet, dass ein Behandlungsfehler nur dann vorliegen kann, wenn der Arzt sich im Vergleich zu anderen Ärzten völlig unverständlich und gewissenlos verhalten hätte.
Das Verhalten wird dabei objektiv beurteilt, was dazu führt, dass der Arzt wegen mangelnder Befähigung keine Entschuldigungsgründe vortragen kann, sondern ihn bei objektivem Fehlverhalten die Haftung in Gänze trifft. Diese Objektivität dient dem Patientenschutz, der Arzt soll sich nicht damit "herausreden können", dass er bestimmte Konsequenzen nicht gewollt habe. Eine objektiv fehlerhafte Behandlung führt also zu einer Haftung, auch wenn der Arzt subjektiv vortragen kann, dass ihn keine Schuld trifft.
Diese subjektive Beurteilung findet lediglich im Strafrecht statt, wobei die Subjektivität der Fähigkeiten und Kenntnisse dort den Arzt vor strafrechtlichen Konsequenzen schützt.
Die Erfüllung des Facharztstandards verlangt indes nicht, dass der Arzt formell eine Facharztanerkennung besitzen muss, sondern es ist ausreichend, dass der Arzt die Behandlung theoretisch und praktisch so beherrscht, wie dies von einem Arzt des entsprechenden Fachgebiets erwartet werden kann. Auch eine durch Assistenzärzte in der Weiterbildung zum Facharzt durchgeführte Behandlung kann dem Facharztstandard entsprechen, wenn die Assistenzärzte in der Ausbildung so weit fortgeschritten sind, dass die tatsächlich eine den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechende Leistungsqualität erbringen können (Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. 25b). Der Facharztstandard wird bei einer solchen Operation auch dadurch eingehalten, dass der vorgesetzte, überwachende Arzt über die notwendigen Fachmedizinischen Kenntnisse verfügt.
Die Auslegung der konkreten Behandlung am Maßstab des Facharztstandards ist unterschiedlich durchzuführen. Wie bereits oben erläutert ist die Annahme eines Behandlungsfehlers insbesondere bei den Diagnosefehlern restriktiv auszulegen. Das bedeutet, dass gerade bei den Befundauswertungsfehlern aufgrund der individuellen körperlichen Voraussetzungen der Patienten für die Annahme von Fahrlässigkeit offensichtlich fehlerhafte Annahmen zugrunde liegen müssen. Das ist dann der Fall, wenn die Diagnose durch den behandelnden Arzt aus Sicht eines gewissenhaften Arztes unter Berücksichtigung des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums schlechterdings nicht vertretbar erscheint (BGHZ 85, 212; BGH, NJW 1988, 1513).
Ebenso restriktiv muss der Behandlungsfehler im Rahmen der notfallmedizinischen Maßnahmen angenommen werden, da hier häufig ein Abwarten auf einen besser qualifizierten Arzt oder zu langen Überlegungen über die beste Behandlungsmethode nicht zumutbar ist und deshalb das (wenn auch nicht fehlerfreie) Behandlungsinteresse das Schutzbedürfnis des Patienten so weit aufwiegt, dass keine Abwägung mehr angebracht erscheint.

2.5 Ärztliche Therapiefreiheit

Die Therapiefreiheit, die der Arzt dadurch genießt, dass er die Therapie für seinen Patienten grundsätzlich nach freiem Ermessen auswählen darf, findet seine Grenzen in den Rechten Dritter sowie in der Verletzung objektiver Sorgfaltspflichten. Grundsätzlich muss der Arzt auch im Rahmen der Therapiewahlfreiheit die anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaft beachten. Allerdings darf auch genau deshalb nicht jedes Abweichen davon eine (wenn auch nur durch Fahrlässigkeit verursachte) Haftung auslösen. Es ist eine Einzelfallabwägung von Nöten, wonach nur dann ein fahrlässiges Verhalten angenommen werden kann, wenn der Arzt seine Behandlungsmethode nicht sorgfältig durchdacht und sich nicht ausreichend mit den Vor- und Nachteilen der Alternativmethode auseinandergesetzt hat. Die Anwendung der Alternativmethode ist allerdings dann als sorgfaltswidrig einzustufen, wenn die Erprobung der Methode zu Lasten des Patienten geht. Dem kann nur durch eine besonders ausführliche und umfangreiche Aufklärung Rechnung getragen werden.

Beispiel für die Therapiewahlfreiheit
Bei Patientin X, der ein neues Hüftgelenk eingesetzt werden soll, entscheidet sich der behandelnde Arzt für eine neuere Methode des Eingriffs, die unter Zuhilfenahme eines "Robodocs" durchgeführt wird. Diese Computerunterstützung lässt ein genaueres und blutärmeres Arbeiten zu. Im Rahmen der OP wird der Ischias-Nerv der Patientin verletzt. Sie nimmt den behandelnden Arzt deshalb in Anspruch.

  • Die Schädigung des Ischias-Nervs ist ein typisches Verletzungsrisiko dieser Operation, auch bei Durchführung der gängigen Operationstechnik. Solange der behandelnde Arzt die Patientin über dieses Risiko aufgeklärt hat, kann ihm nicht ein Vorwurf wegen des Einsatzes der neuen Technik gemacht werden. Der X entstehen somit keine Ansprüche gegen den Arzt.


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Arzthaftung - Nachweis und Durchsetzung von Ansprüchen bei ärztlichen Behandlungsfehlern“ von Michael Kaiser, Rechtsanwalt, und Magdalena Mahrenholtz, wissenschaftliche Mitarbeiterin, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-86-1.


Kontakt: kaiser@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2018


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Über die Autoren:

Michael Kaiser, Rechtsanwalt

Portrait Michael-Kaiser

Michael Kaiser berät und vertritt seit vielen Jahren Patienten, Ärzte und Gesundheitsorganisationen bei Rechtsfragen um Arztrecht/Medizinrecht.
Er vertritt Krankenversicherungsnehmer bei der Durchsetzung von Ansprüchen auf Krankenversicherungsleistungen gegen Krankenkassen. Insbesondere die Übernahme der Kosten für neue, vielversprechende, aber noch nicht anerkannte Behandlungsmethoden durch die Krankenkassen liegt ihm am Herzen.
Er vertritt Patienten und Ärzte bei Arzthaftungsfällen. Er vertritt Ärzte beim Streit um die Vergütung bei Kassen- oder Privatpatienten und bearbeitet berufs- und standesrechtliche Fragestellungen, z.B. die Grenzen zulässiger Werbung, patent- und markenrechtliche Probleme oder Regressansprüche der Kassenärztlichen Vereinigung.
Michael Kaiser begleitet Ärzte bei der Gründung und Auseinandersetzung von Gemeinschaftspraxen und Praxisgemeinschaften sowie bei der Praxisnachfolge.

Rechtsanwalt Michael Kaiser hat veröffentlicht:

  • Arztpraxis – Kauf und Übergang, Harald Brennecke und Michael Kaiser, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-54-0

Rechtsanwalt Michael Kaiser ist Dozent für Arztrecht/Medizinrecht an der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.
Er bietet Schulungen, Vorträge und Seminare unter anderem zu den Themen:

  • Arzthaftung: Die Haftung des Arztes für Behandlungsfehler
  • Die Ärztegesellschaft: Gemeinschaftspraxis und Praxisgemeinschaft
  • Arzthonorar und Kassenärztliche Vereinigung: Abrechnung und Regress
  • Vergütungsansprüche von Ärzten und Therapeuten

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