Arzthaftung – Teil 11 – Befunderhebungsfehler, Therapiefehler

2.3.2 Befunderhebungsfehler

Neben dem Stellen der falschen Diagnose kann es ebenfalls als Behandlungsfehler gewertet werden, wenn sich die falsche Diagnose des Arztes nicht aus der Fehlinterpretation von Befunden ergibt, sondern aus dem Unterlassen der Erhebung von elementaren Kontrollbefunden. Diese Befunderhebung kann sich auf den Zeitpunkt vor der Diagnosestellung oder auf die Überprüfung einer gestellten Diagnose beziehen (Gehrlein, Grundwissen Arzthaftungsrecht, S. 42). Entstehen dem Patienten aus einer daraus folgenden Fehlbehandlung bzw. Nicht-Behandlung der nicht erkannten Krankheit Schäden, kann dies eine Haftung des Arztes zur Folge haben. Die Nicht-Vornahme einer gebotenen Befunderhebung stellt somit regelmäßig einen Behandlungsfehler dar. Drängt sich der Verdacht einer bestimmten Diagnose geradezu auf, begeht der Arzt einen Befunderhebungsfehler, wenn er die ausreichende Diagnostik unterlässt (Janda, Medizinrecht, S. 311). Der Arzt ist dabei auch dafür verantwortlich, dass, wenn die Situation es erfordert, spezielle diagnostische Verfahren eingeleitet und durchgeführt werden und er im Zweifel den Patienten an einen Spezialisten verweist.
Schwierigkeiten bereitet der Befunderhebungsfehler häufig deshalb, weil nicht feststeht, was die Konsequenzen aus einem richtig erhobenen Befund gewesen wären und ob sich dadurch ein im Ergebnis besserer Gesundheitszustand des Patienten ergeben hätte. Diese Schwierigkeiten schlagen sich typischerweise in einem interessengerechten Ausgleich in der Beweislast nieder.

Beispiel für einen Befunderhebungsfehler/unterlassener Kontrollbefund
Die 30-jährige Patientin X macht einen Kontrollbesuch bei ihrem Gynäkologen. Dieser ertastet an der Brust einen Knoten, beruhigt die X aber mit der Aussage, es handele sich lediglich um eine gutartige Zyste. Im Laufe der Zeit vergrößert sich der Knoten fühlbar. Der Gynäkologe hält an seiner Diagnose fest, ohne weitere Kontrollbefunde zu erheben. Im darauffolgenden Jahr wird bei der X von einem anderen Arzt Brustkrebs diagnostiziert.

  • Der ursprünglich behandelnde Gynäkologe hätte seine Diagnose durch weitere Untersuchungen, wie z.B. Mammographie, Sonographie oder auch ein CT, die Veränderung in der Brust, die bekanntermaßen immer ein Anzeichen für Brustkrebs sein kann, weiter abklären müssen.
  • Dieses Unterlassen begründet eine Haftung wegen eines Befunderhebungsfehlers.
  • In diesem Fall ist eine Umkehr der Beweislast dahingehend angebracht, dass der Schaden nicht auf der Behandlung beruht, weil mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass die frühzeitige Abklärung das Vorliegen des Tumors bereits offengelegt hätte. Wäre die Diagnose "Krebs" zu einem früheren Zeitpunkt gestellt worden, hätte das Unterlassen der Krebsbehandlung für sich genommen einen fundamentalen Behandlungsfehler dargestellt. Die Auswirkung der Nicht-Erhebung wird also mit der Nicht-Behandlung gleichgesetzt.

2.3.3 Therapiefehler

Im Rahmen des Therapiefehlers sind der echte Therapiefehler und der Therapiewahlfehler zu unterscheiden. Die Wahl der angebrachten und geeigneten Therapie unterliegt im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit grundsätzlich dem behandelnden Arzt. Danach hat der behandelnde Arzt die Therapie frei nach seiner Ausbildung, Erfahrung und Praxis auswählen, insbesondere darf er die Methode an seine eigene praktische Erfahrung anpassen (BGH, MedR 1992, 214). Diese Auswahlmöglichkeit beschränkt sich insofern, dass der Arzt die Therapiemethode sorgfältig auswählen muss und nicht die allgemein anerkannte Überlegenheit einer bestimmten anderen Methode übergehen darf. Er muss dabei das Prinzip des sichersten Weges einhalten, was bedeutet, dass er das Verhältnis von Risiko der Behandlung und Erfolgsaussichten durch die Behandlung sorgfältig gegeneinander abwägen und dabei das Risiko möglichst gering halten muss. Besonders risikobelastete Methoden dürfen nur eingesetzt werden, wenn die besondere Belastung im Einzelfall gerechtfertigt ist, weil diese Behandlung besonders schnell oder besonders effektiv wirkt.
Grundsätzlich liegt nicht deshalb ein Behandlungsfehler vor, weil der Arzt eine alternative Heilmethode, die nicht der Schulmedizin entspricht, anwendet. In diesem Fall muss der Arzt sich jedoch an bestehenden Erkenntnissen und Bestimmungen zu der gerade gewählten Methode orientieren, um einen Behandlungsfehler zu vermeiden.
Der echte Therapiefehler dagegen bezeichnet schlicht die Falschbehandlung im Rahmen der Therapie, beispielsweise durch nicht, nicht ausreichend, nicht rechtzeitig, überflüssig durchgeführt oder fehlerhaft durchgeführte therapeutische Maßnahmen. Der bloße Misserfolg einer Behandlung lässt allerdings regelmäßig nicht für sich auf einen Therapiefehler schließen.

Beispiel für einen Behandlungsfehler bei Einsatz einer Außenseitermethode
Der an einem Bandscheibenvorfall erkrankte Patient X wurde von seinem Arzt mit einem speziellen "Medikamentencocktail" behandelt, der ihm über einen Katheter direkt ins Rückenmark gespritzt wurde. Es handelt sich dabei um eine Außenseitermethode, mit deren Hilfe schon gute Therapieerfolge erzielt werden konnten. Im Laufe der Behandlung kam es bei X vermehrt zu Lähmungserscheinungen und Inkontinenz, deren Auftreten der Arzt allerdings weitgehend ignorierte. Nach der Behandlung behielt der X bleibende Schäden zurück und nahm daraufhin den Arzt in Anspruch.

  • Der Arzt muss hier aufgrund seines Behandlungsfehlers haften. Dieser besteht nicht darin, dass er eine Außenseitermethode gewählt hat, sondern darin, dass er eine höhere als die übliche Sorgfalt hätte anwenden müssen. Gerade beim Einsatz von nicht üblichen Methoden muss ein höherer Maßstab gelten. Der Arzt hätte die Behandlung beim Auftreten der Komplikationen mindestens unterbrechen müssen, um zunächst der Ursache für die Lähmungserscheinungen auf den Grund zu gehen.


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Arzthaftung - Nachweis und Durchsetzung von Ansprüchen bei ärztlichen Behandlungsfehlern“ von Michael Kaiser, Rechtsanwalt, und Magdalena Mahrenholtz, wissenschaftliche Mitarbeiterin, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-86-1.


Kontakt: kaiser@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2018


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Über die Autoren:

Michael Kaiser, Rechtsanwalt

Portrait Michael-Kaiser

Michael Kaiser berät und vertritt seit vielen Jahren Patienten, Ärzte und Gesundheitsorganisationen bei Rechtsfragen um Arztrecht/Medizinrecht.
Er vertritt Krankenversicherungsnehmer bei der Durchsetzung von Ansprüchen auf Krankenversicherungsleistungen gegen Krankenkassen. Insbesondere die Übernahme der Kosten für neue, vielversprechende, aber noch nicht anerkannte Behandlungsmethoden durch die Krankenkassen liegt ihm am Herzen.
Er vertritt Patienten und Ärzte bei Arzthaftungsfällen. Er vertritt Ärzte beim Streit um die Vergütung bei Kassen- oder Privatpatienten und bearbeitet berufs- und standesrechtliche Fragestellungen, z.B. die Grenzen zulässiger Werbung, patent- und markenrechtliche Probleme oder Regressansprüche der Kassenärztlichen Vereinigung.
Michael Kaiser begleitet Ärzte bei der Gründung und Auseinandersetzung von Gemeinschaftspraxen und Praxisgemeinschaften sowie bei der Praxisnachfolge.

Rechtsanwalt Michael Kaiser hat veröffentlicht:

  • Arztpraxis – Kauf und Übergang, Harald Brennecke und Michael Kaiser, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-54-0

Rechtsanwalt Michael Kaiser ist Dozent für Arztrecht/Medizinrecht an der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.
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