Verkehrsordnungswidrigkeiten – Teil 11 – Rechtfertigungsgründe

4.5 Rechtfertigungsgründe bei Verkehrsordnungswidrigkeiten

Bei Verkehrsordnungswidrigkeiten gibt es wie bei Straftaten rechtliche anerkannte Gründe, die die Rechtswidrigkeit der Tat entfallen lassen. Diese Gründe werden als Rechtsfertigungsgründe bezeichnet. Die Folge ist, dass man keine Rechtsfolgen für die Begehung einer Ordnungswidrigkeit zu erwarten hat, wenn man einen solchen Rechtfertigungsgrund vorbringen kann.
Die häufigsten Rechtfertigungsgründe sind der rechtfertigende Notstand, § 16 OWiG und die Notwehr, § 15 OWiG.

4.5.1 Rechtfertigender Notstand, § 16 OWiG

Ein rechtfertigender Notstand nach § 16 OWiG, liegt vor, wenn man in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Handlung begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden. Eine solche Handlung wird dann als Notstandshandlung bezeichnet. Das bedeutet, stellt die Begehung der Ordnungswidrigkeit eine Notstandshandlung dar, entfällt die Rechtswidrigkeit.

Dafür wird allerdings vorausgesetzt, dass die eigene Notstandshandlung grundsätzlich auch geeignet und erforderlich ist, um die bestehende Gefahr abzuwenden. Darüber hinaus muss das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegen. Das bedeutet also zum Beispiel, dass man durch die eigene helfende Handlung keine übermäßige Gefährdung anderer hervorrufen darf (vgl. unten zweites Beispiel).

Zudem muss man auch mit Rettungswillen handeln. Es reicht also nicht für einen rechtfertigenden Notstand, wenn beispielsweise ein Taxifahrer zu schnell fährt, da er eine Verunreinigung des Fahrgastraums durch einen betrunkenen Fahrgast befürchtet (OLG Bamberg, Beschluss vom 04.09.2013, Az.: 3 Ss OWi 1130/13).

Beispiel
A ist hochschwanger. Sie fährt gerade als Fahrgast im Taxi des T als plötzlich starke Wehen auftreten. Da bittet sie den Taxifahrer T schnellstmöglich in das nächste Krankenhaus zu fahren. Taxifahrer T erkennt die Notlage der A und fürchtet sowohl eine Geburt im Taxi als auch eine Lebens- beziehungsweise Gesundheitsgefährdung von A. Daher überschreitet er auf der Fahrt die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 30 km/h. Dabei wird er geblitzt und erhält einen Bußgeldbescheid mit einer Geldbuße und einem Fahrverbot von einem Monat. Dagegen richtete sich die Rechtsbeschwerde des Taxifahrers.

  • Der Geschwindigkeitsverstoß ist in diesem Fall nicht rechtswidrig. Die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit, weil T um das Leben bzw. die Gesundheit einer in den Wehen liegenden hochschwangeren Frau fürchtet ist gerechtfertigt (Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluss vom 22.02.2015, Az.: 5 Ss (OWI) 411/94 - (OWi) 211/94 I). Es liegt ein rechtfertigender Notstand nach § 16 OWiG vor, da sich während der Fahrt die Notwendigkeit einer umgehenden Krankenhausbehandlung der A ergab.

Beispiel
A fährt nachts auf der leeren Autobahn. Anhand eines Verkehrsschildes bemerkt er plötzlich, dass er in die falsche Richtung auf die Autobahn gefahren und nun als „Geisterfahrer“ unterwegs ist. Sofort wendet er auf der Fahrbahn, um in die richtige Richtung zu kommen.

  • Der A ist ordnungswidrig in die falsche Richtung gefahren. Der Verstoß des Wendens auf der Autobahn ist hier allerdings eine gerechtfertigte Ordnungswidrigkeit. Da die Autobahn zu diesem Zeitpunkt leer war, konnte er beim Wenden eine konkrete Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer nahezu ausschließen. Sogar in dem Fall, dass die Möglichkeit einer Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer nicht ausgeschlossen ist, kann das Wenden im Einzelfall gerechtfertigt sein, wenn die Gefährdung beim Weiterfahren in der falschen Richtung größer wäre (OLG Karlsruhe, 22.08.1983, Az.: 2 Ss 127/83).


4.5.2 Notwehr, § 15 OWiG

Nach § 15 OWiG kann man bei der Begehung einer Verkehrsordnungswidrigkeit auch durch Notwehr gerechtfertigt sein. Unter Notwehr versteht man eine Verteidigungshandlung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. So kann beispielsweise ein Geschwindigkeitsverstoß, der auf der einer Bundesautobahn begangen wird, um die geschaffene Gefahr eines Auffahrunfalls zu beseitigen, gem. § 15 OWiG gerechtfertigt sein, selbst wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mehr als 30 km/h überschritten wird (OLG Naumburg, 15.10.1996, Az.: 1 Ss (B) 351/96).

Beispiel
A fährt mit seinem Pkw auf der Autobahn auf der rechten Fahrbahnseite, um mehrere hintereinanderfahrende LKWs auf der linken Fahrbahnseite zu überholen. Die Höchstgeschwindigkeit ist auf 100 km/h beschränkt. Hinter ihm fährt X mit seinem LKW und bedrängt den A, indem er sehr dicht von hinten auffährt. Der Abstand beträgt nur knapp 2 Meter. Aus Angst der LKW könnte von hinten auffahren, erhöht A seine Geschwindigkeit auf 145 km/h, um einen entsprechenden Abstand zwischen sich und dem LKW zu legen. Ein Ausweichen auf die linke Fahrbahnseite ist nicht möglich, da diese durch andere fahrende Fahrzeuge blockiert ist. Plötzlich wird A geblitzt und erhält einen Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung.

  • Die Geschwindigkeitsüberschreitung war nicht rechtswidrig, da A zum Tatzeitpunkt durch einen LKW in der Weise bedrängt worden ist, dass dieser "nahezu 2 Meter" aufgefahren ist. Das dichte Auffahren des LKW-Fahrers X ist als gegenwärtiger rechtswidriger Angriff im Sinne des § 15 Abs. 2 OWiG zu werten. A handelte in Notwehr als er die zulässige Geschwindigkeit überschritt, da er dies nur tat um einen Auffahrunfall zu vermeiden.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Ordnungswidrigkeiten im Verkehr“ von Michael Kaiser, Rechtsanwalt, und Kristin Nözel, Volljuristin Dipl. jur. (Univ.), juristisch Fachautorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-84-7.


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Stand: Januar 2018


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