Kartellrecht – Eine Einführung – Teil 19 – Verbot unbilliger Behinderung und Diskriminierungsverbot


Autor(-en):
Tilo Schindele
Rechtsanwalt

Constantin Raves
Rechtsanwalt


5.2.2 Verbot unbilliger Behinderung und Diskriminierungsverbot (§ 20 GWB)

§ 20 GWB regelt das verbotene Verhalten von Unternehmen mit relativer oder überlegener Marktmacht. Die relative Marktmacht wird als eine besondere Form der Abhängigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen von anderen Unternehmen definiert. Voraussetzung ist, dass die kleinen oder mittleren Unternehmen gerade als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder Dienstleistungen, im vertikalen Verhältnis, von dem fraglichen Unternehmen in einer Weise abhängig sind, dass für sie keine ausreichenden zumutbaren Möglichkeiten bestehen, auf andere Unternehmen auszuweichen.[1] Das Vorliegen einer relativen Marktmacht wird vermutet, wenn die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 S. 2 GWB vorliegen. Das ist dann der Fall, wenn der Nachfrager außergewöhnliche Preisnachlässe bzw. Leistungsentgelte erhält, die gleichartigen Nachfragern nicht gewährt werden.[2]

Die Frage, ob ein betreffendes kleines oder mittleres Unternehmen von einem anderen Unternehmen, als Zwangspartner, abhängig ist, hängt davon ab, ob sich der Nachfrager die fragliche Ware über andere Kanäle beschaffen kann bzw. ob der Anbieter sie über andere Kanäle abzusetzen vermag sowie ob diese anderen Kanäle den betroffenen Unternehmen nach ihren individuellen wirtschaftlichen Verhältnissen auch zumutbar sind. Dies ist zu verneinen, wenn der betreffende Anbieter oder Nachfrager in Kauf nehmen müsste, dass seine Wettbewerbsfähigkeit dadurch nachhaltig beeinträchtigt würde.[3]
Die wichtigsten Fallgruppen sind die sortimentsbedingte, die mangelbedingte, die unternehmensbedingte und die nachfragebedingte Abhängigkeit.

5.2.2.1 Sortimentsbedingte Abhängigkeit

Unter der sortimentsbedingten Abhängigkeit wird die Angewiesenheit vieler kleiner oder mittlerer Händler auf die Belieferung mit bestimmten Artikeln verstanden. Dies bezieht sich vor allem auf die Angewiesenheit von bestimmten Markenartikeln, von dem der Verbraucher bei ihren Händlern ein vollständiges Sortiment erwartet. Von einer Abhängigkeit kann bereits dann auszugehen sein, wenn Qualität und Werbung dem betreffenden Artikel eine derartige Stellung auf dem Markt verschafft haben, dass jeder Abnehmer auf die Führung des Artikels angewiesen ist. Dies hängt vor allem vom Ansehen der Ware sowie von der Marktstufe und der Vertriebsform ab.[4]

Eine Abhängigkeit der Nachfrager bei der Belieferung mit besonders bekannten Artikeln kann gegenüber einem einzelnen Unternehmer (Spitzenstellungsabhängigkeit) oder aber auch gegenüber einer Gruppe von Unternehmen (Spitzengruppenabhängigkeit) bestehen.

Eine sortimentsbedingte Abhängigkeit liegt vor bei:

  • Deutsche Telekom AG als Mitherausgeber der regionalen Telefonverzeichnisse, weil diese für viele Branchen als Werbeträger unverzichtbar sind[5],
  • Hersteller begehrter Laborchemikalien[6],
  • Gemeinden als Veranstalter von Volksfesten im Verhältnis zu den Ausstellern[7]

5.2.2.2 Mangelbedingte Abhängigkeit

Unter mangelbedingter Abhängigkeit versteht man die Abhängigkeit einstufiger Unternehmen von ihren mehrstufigen, vertikal integrierten Konkurrenten mit Zugang zu den Rohstoffquellen. Bei einem Ausfall von Liefermöglichkeiten kommt es zu einer nicht vorhersehbaren Verknappung des Produktangebots. § 20 Abs. 1 GWB regelt, dass in solchen Fällen die mehrstufigen Unternehmen eine Pflicht zur Weiterbelieferung ihrer traditionellen Abnehmer haben, die sie bereits vorher regelmäßig versorgt haben.[8] Die jeweiligen Abnehmer müssen zudem gleichbehandelt werden, so dass die Ressourcen unter Umständen unter ihnen aufgeteilt werden.[9] Eine solche Abhängigkeit ist in den Praktiken der vertikal integrierten Mineralölkonzerne während der verschiedenen Ölkrisen[10] zu sehen.

5.2.2.3 Unternehmensbedingte Abhängigkeit

Eine unternehmensbedingte Abhängigkeit liegt dann vor, wenn sich ein Unternehmen, insbesondere durch eine langjährige Geschäftsbeziehung, so sehr auf ein anderes Unternehmen eingestellt hat, dass ihm eine sofortige Umstellung im Falle des Abbruchs der Beziehungen nur noch mit unverhältnismäßigen Opfern möglich ist.[11]

Liegt eine solche Abhängigkeit vor, muss das marktstarke Unternehmen den kleinen und mittleren Unternehmen im Falle einer Kündigung der Geschäftsbeziehung eine längere Übergangsfrist einräumen, um ihnen eine Amortisation ihrer Investitionen und eine Umstellung auf andere Geschäftspartner zu ermöglichen.[12] § 20 Abs. 1 S. 1GWB schützt allerdings nicht vor geschäftlichen Fehlentscheidungen der betroffenen Unternehmen, sondern soll nur den übermäßigen Handlungsspielraum der marktstarken Unternehmen im Interesse Dritter einschränken.[13]

Unternehmensbedingte Abhängigkeit ist die Abhängigkeit kleiner und mittlerer Zulieferer und Händler von den großen Kraftfahrzeugherstellern, bedingt durch ihre umfangreichen, speziell auf die Bedürfnisse des betreffenden Herstellers ausgerichteten Investitionen, die bei einer plötzlichen Beendigung der Geschäftsbeziehung weitgehend entwertet würden.[14]


[1] Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage 2014, § 28 Rn. 3.

[2] Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage 2014, § 28 Rn. 23.

[3] Emmerich, Kartellrecht, 13. Auflage 2014, § 28 Rn. 6.

[4] BGH NJW-RR 2000, 1286 = WuW/E DE-R 481 (482) – Designer-Polstermöbel.

[5] BGH NJW-RR 2005, 49 = GRUR 2005, 177 = WuW/E DE-R 1377 (1378); NJW 2005, 2014 – Sparberaterin I und II.

[6] BGH WuW/E DE-R 3967 = NZKart 2013, 462 – Rabattstaffel.

[7] OLG Koblenz GRUR 1990, 65.

[8] EuGH Slg. 1978, 1513 (1524); BKartA TB 1979/80, S. 44 ff.

[9] Ausschussbericht, BT-Drs. 7/765, S. 9 f.

[10] BKartA TB 1979/90, S. 44 ff.

[11] Ausschussbericht, BT-Drs. 7/765, S. 9 f.

[12] OLG München NJW-RR 1995, 1137 (1138 f.); OLG Celle WuW/E DE-R 581 (583) – VAG.

[13] BGH LM § 26 GWB Nr. 79 = NJW 1993, 1653.

[14] Habersack/P. Ulmer, Rechtsfragen des Kfz-Vertriebs durch Vertragshändler, 1998, S. 103 ff.; Pfeffer, Der kartellrechtliche Schutz der Zuliefererdienste in der Automobilbranche, 1985.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Kartellrecht – Eine Einführung“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Constantin Raves, Rechtsanwalt, und Alexander Fallenstein, wissenschaftlicher Mitarbeiter, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-77-9.



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Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2017


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