Kartellrecht – Eine Einführung – Teil 17 – Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen, Koppelungsgeschäfte


Autor(-en):
Tilo Schindele
Rechtsanwalt

Constantin Raves
Rechtsanwalt


5.1.4.3 Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen (Art. 102 S. 2 lit. c AEUV)

Art. 102 S. 2 lit. c AEUV enthält ein Diskriminierungsverbot, von dem - im Gegensatz zu Art. 101 Abs. 1 lt. c AEUV - die einseitige Diskriminierung von Handelspartnern durch ein (oder mehrere) marktbeherrschende(s) Unternehmen erfasst wird. Unter einer Diskriminierung versteht man die unterschiedliche Behandlung gleichartiger Sachverhalte. Dabei können die Auswirkungen einer Diskriminierung ambivalent, d.h. je nach den Umständen des Einzelfalls positiv oder negativ zu bewerten sein.[1]
Der Anwendungsbereich des Art. 102 S. 2 lit. c. AEUV erstreckt sich auf grundlose Diskriminierungen marktstarker Unternehmen, weil durch solche die gleichen Wettbewerbschancen der Vertragspartner, der Lieferanten sowie der Abnehmer des marktstarten Unternehmens beeinträchtigt werden und damit zugleich auch der Wettbewerb verzerrt wird.

Der Zweck des Verbots besteht vor allem darin, den unverfälschten Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten Märkten gegen eine Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den Lieferanten oder Abnehmern des Unternehmens in beherrschender Stellung durch ihre grundlose Diskriminierung zu schützen.[2] Einfacher ausgedrückt soll das Verbot die allseitige Öffnung der Märkte im Binnenmarkt sicherstellen.

Unternehmen in beherrschender Stellung sollen daran gehindert werden, die Marktchancen der "Handelspartner", d.h. der Unternehmen auf den vor- und nachgeordneten Märkten durch diskriminierende Eingriffe zu beeinträchtigten, indem sie einzelne ihrer Lieferanten oder Abnehmer gegenüber anderen durch Anwendung unterschiedlicher Bedingungen "bei gleichwertigen Leistungen" benachteiligen.[3]
Mit dem Begriff "Handelspartner" sind allein die gewerblichen Lieferanten und Abnehmer des beherrschenden Unternehmens gemeint, sodass grundlose Diskriminierungen zum Nachteil der Verbraucher nur über die Generalklausel des Art. 102 S. 1 AEUV - und nicht über das Regelbeispiel - erfasst sein können.
Ob eine Leistung gleichwertig ist, beurteilt sich nach einem objektiven Maßstab aus der Sicht der Handelspartner. Wird danach von einer Gleichwertigkeit der Leistung ausgegangen, hat dies zur Folge, dass das marktbeherrschende Unternehmen seine Handelspartner hinsichtlich der jeweiligen Gegenleistung grundsätzlich gleichbehandeln muss. Unterschiedliche Bedingungen sind mit dem Missbrauchsverbot nur dann vereinbar, wenn sie durch sachliche Grunde gerechtfertigt sein können. Ein sachlicher Grund kann demnach z.B. bei unterschiedlichen Kosten bei dem beherrschenden Unternehmen als Lieferant oder Abnehmer vorliegen.[4]

Eine grundlose Diskriminierung zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten kann Vorliegen bei:

  • Festsetzung unterschiedlicher Gebühren für In- und Ausländer durch Telekommunikationsunternehmen[5],
  • die Benachteiligung ausländischer Unternehmen beim Zugang zum Werbefernsehen[6],
  • die Anwendung unterschiedlicher Preise durch die nationalen Bahngesellschaften[7],
  • sowie die Benachteiligung ausländischer Anbieter bei Ausschreibungen der öffentlichen Hand und ihrer Unternehmen.[8]

Diskriminierungen durch unterschiedliche Rabatte für die Vertragspartner sind möglich bei:

  • Treuerabatte / gleichstehende Rabattsysteme, die wettbewerbsbeschränkendes Verhalten belohnen sollen[9],
  • willkürliche Rabattstaffeln einschließlich individueller und damit willkürlicher Zielrabatte,
  • Mengenrabatte, wenn die einzelnen Rabattsprünge nicht mehr durch Kostenersparnisse bei dem Lieferanten gerechtfertigt werden können, sondern z.B. nur einzelne Unternehmen belohnen und andere bestrafen sollen.[10]

5.1.4.4 Koppelungsgeschäfte (Art. 102 S. 2 lit. d AEUV)

Als letztes Regelbeispiel für missbräuchliches Verhalten erfasst Art. 102 S. 2 AEUV die an den Abschluss von Verträgen geknüpfte Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzlich Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen. Damit soll bezweckt werden, dass die Vertragspartner marktbeherrschender Unternehmen vor aufgezwungenen Leistungen geschützt werden, die sie gar nicht haben wollen. Daneben wird mit dem Verbot der Wettbewerb auf dem Sekundärmarkt für die gekoppelten, also aufgezwungenen Produkte geschützt, da Koppelungsgeschäfte die Gefahr begründen, dass Wettbewerber auf dem Sekundärmarkt für das gekoppelte Produkt oder die gekoppelte Dienstleistung verdrängt werden und damit die Macht von dem bereits beherrschten auf den benachbarten Markt übertragen wird.[11]

In zwei Fällen scheidet die Annahme einer verbotenen Koppelung aus:
Zum einen, wenn die fraglichen zusätzlichen Leistungen sachlich in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Koppelung durch vernünftige wirtschaftliche oder technische Gründe gerechtfertigt erscheint. Als Beispiel ist die Koppelung von Lizenzen an technisch bedingte Abnahmepflichten für Vorprodukte oder Rohstoffe zu nennen.[12]
Ferner kann eine Koppelung nach Handelsbrauch gerechtfertigt sein. Dies setzt voraus, dass der Handelsbrauch nicht seinerseits einen Missbrauch darstellt, etwa, weil er zuvor von dem marktbeherrschenden Unternehmen in seinem Interesse durchgesetzt wurde.[13]
Ein Missbrauch durch Koppelungsgeschäft scheidet zudem aus, wenn mit diesem Geschäft Effizienzvorteile für die Verbraucher verbunden sind, die die Nachteile der Marktverschließung überwiegen.[14] Mögliche Effizienzvorteile sind hierbei die Einsparung von Produktionskosten, von Transaktionskosten sowie von Verpackungs- und Vertriebskosten.

Unzulässige Koppelungsgeschäfte sind:

  • "Hilti-Fall"[15]: Koppelung des Vertriebs patentierter Bolzenschussgeräte mit der Abnahme von Kartuschen und Bolzen, wodurch selbständige Hersteller von Kartuschen und Bolzen vom Markt verdrängt werden sollten.
  • "Tetra Pak-Fall"[16]: Koppelung des Vertriebs patentierter Maschinen mit dem Absatz der darauf zu bearbeitenden Materialien und mit dem Bezug von Reparaturleistungen.


[1] Mestmäcker, WuW 1957, 21, 92.

[2] EuGH Slg. 2007, I-2373 Tz. 143 = EuZW 2007, 306, 313 = JuS 2007, 975 – BA.

[3] EuGH Slg. 2007, I-2373 Tz. 143 ff. = EuZW 2007, 306 (313) = JuS 2007, 975 Nr. 14 – BA.

[4] OLG Hamburg WuW/E DE-R 2831 (2836 ff. Tz. 51 ff.) – CRS/LH.

[5] EuGH Slg. 1985, 880 (887 Tz. 26) – BT.

[6] EuGH Slg. 1974, 409 (431 Tz. 17) – Sacchi.

[7] EuG Slg. 1997, II-1689 (1720 f. Tz. 78 f.) – Deutsche Bahn.

[8] Kommission, 3. WB 1973, Tz. 68 f. (S. 62 f.); 20. WB 1990, Tz. 115 (S. 105 f.).

[9] EuGH Slg. 2007, I-2373 = EuZW 2007, 306 (308, 312 ff.) = JuS 2007, 975 Nr. 14 – BA/Virgin.

[10] Kommission, Entsch. v. 13.12.2000, ABl. 2003 Nr. L 10/10 (28 f. Tz. 181 ff.) – Solvay.

[11] Kommission, Beschl. v. 16.12.2009, ABl. 2010 Nr. C 36/7 = WuW/E EU-V 1499 (1502 f. Tz. 33 ff.).

[12] Kommission, Leitlinien für Technologietransfer-Vereinbarungen von 2004, ABl. Nr. C 101/02 (34 f. Tz. 191 ff.).

[13] EuGH Slg. 1996, I-5987 (6011 Tz. 37) – Tetra Pak.

[14] Lange/Pries, EWS 2008, 1 (4 f.).

[15] EuGH Slg. 1994, I-693 = EuZW 1994, 316.

[16] EuGH Slg. 1996, I-5987 (6010 ff.).

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Kartellrecht – Eine Einführung“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Constantin Raves, Rechtsanwalt, und Alexander Fallenstein, wissenschaftlicher Mitarbeiter, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-77-9.



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Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2017


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