Handbuch zur arbeitsrechtlichen Abmahnung – Teil 08 – Entbehrlichkeit der Abmahnung

3.3.1.2.3 Entbehrlichkeit der Abmahnung

In besonderen Fällen kann eine Abmahnung jedoch entbehrlich sein. Das ist immer dann der Fall, wenn

  • Sie den beabsichtigen Erfolg (Verhaltensänderung) nicht herbeiführen kann (BAG 18.05.1994 - 2 AZR 626/93 = AP BGB § 626 Nr.122.), oder
  • Aufgrund der besonderen Schwere der Pflichtverletzung die Negativprognose für die Zukunft bereits angestellt werden kann.

3.3.1.2.3.1 Wegen der besonderen Schwere des Verstoßes

Der Charakter der Kündigung ist zukunftsorientiert. Mag das Bild in der Praxis oft das Gegenteil vermitteln, so ist sie jedoch nicht etwa eine Bestrafung für das Fehlverhalten. Sie kann stattdessen nur dann ausgesprochen werden, wenn eine entsprechende "negativen Zukunftsprognose" angestellt werden kann. Dies ist normalerweise nur dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer trotz bereits erfolgter Abmahnung wieder Pflichtverletzungen begeht. Dadurch zeigt er deutlich, dass er nicht auf die Belehrungen reagiert und er sich sehr wahrscheinlich auch in Zukunft nicht ändern wird.
In seltenen Fällen jedoch ist bereits die erste Pflichtverletzung so gravierend, dass es gar keiner Abmahnung bedarf, um davon ausgehen zu können, dass das Arbeitsverhältnis auch in Zukunft belastet sein wird. Begeht der Arbeitnehmer einen ganz besonders schweren Verstoß, kann die Abmahnung vor der Kündigung daher entbehrlich sein, da die negative Zukunftsprognose bereits gestellt werden kann. Insbesondere gilt dies, weil sich der Arbeitnehmer bei derartig gravierenden Verletzungen selbst auch darüber bewusst ist, dass er seinen Arbeitsplatz damit gefährdet und dies nicht erst im Rahmen einer Abmahnung mitgeteilt bekommen muss.

Beispiel
Arbeitnehmer N möchte in den Urlaub fahren. Seinen Arbeitgeber G zu informieren sieht er jedoch gar nicht ein. Er fährt in den aus seiner Sicht wohlverdienten Erholungsurlaub, ohne im Betrieb auch nur Bescheid zu sagen und erscheint die nächsten vier Wochen nicht. Als er schließlich gut erholt wieder an seinem Arbeitsplatz erscheint ist G außer sich und möchte N (ordentlich) kündigen.

  • G kann N ohne Abmahnung kündigen. Es handelt sich um eine verhaltensbedingte Kündigung. Grundsätzlich ist bei dieser zunächst eine Abmahnung erforderlich, um dem Arbeitnehmer eine Chance zur Besserung zu geben. Allerdings ist eine Abmahnung ausnahmsweise entbehrlich, wenn ein Pflichtverstoß von ganz erheblicher Schwere vorliegt, sodass die negative Zukunftsprognose bereits angestellt werden kann. Der von N begangene Pflichtverstoß ist hier so gravierend, dass sich N bei seinem Handeln darüber klar gewesen sein muss, dass er seinen Arbeitsplatz aufs Spiel setzt. Er sich ein für alle Mal als derartig unzuverlässig erwiesen, dass eine Negativprognose auch für die Zukunft gestellt werden kann (vgl. zu diesem Fall LAG Hamm 25.06.1985.).

3.3.1.2.3.2 Wegen fehlender Erfolgsaussichten

Eine Abmahnung ist auch immer dann nicht nötig, wenn sie ersichtlich "sinnlos" ist, also den erwünschten Erfolg (die positive Verhaltensänderung) sicher nicht herbeiführen kann. Dies ist einerseits der Fall, wenn der Arbeitnehmer sein Verhalten objektiv nicht ändern kann. Dann würde auch eine Abmahnung nichts daran ändern, dass es zu weiteren Pflichtverstößen kommt. Gleiches gilt, wenn der Arbeitnehmer eindeutig seine Uneinsichtigkeit zum Ausdruck gebracht hat und er ganz klarmacht, dass er nicht daran denkt, sein Verhalten zu ändern. Hat er dies ernsthaft und eindeutig vermittelt, ist eine Abmahnung nicht erforderlich für eine Kündigung, da sie laut eigener Äußerung des Arbeitnehmers sowieso keinen Erfolg haben würde.

Beispiel
Arbeitnehmer N erscheint regelmäßig volltrunken zur Arbeit im Betrieb des Arbeitgebers G. Auch während der Arbeitszeiten konsumiert er heimlich erhebliche Mengen alkoholischer Getränke. Dadurch ist er nicht mehr in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen und es kommt wiederholt zu Unfällen und Schäden an den Maschinen des G. G führt ein langes Gespräch mit N und möchte ihm klarmachen, dass sein Verhalten so nicht länger tragbar ist. N kommt ihm jedoch zuvor und erklärt, er habe so einfach mehr Spaß an der Arbeit und anders würde er hier erst gar nicht mehr auftauchen. Auch auf Nachfragen des G erklärt er mehrfach und überzeugend, er sehe es gar nicht ein, sich und sein Verhalten zu ändern. Das könne G "gleich mal vergessen" und sich seinen Job sonst sowieso auch "an den Hut stecken". Muss G den N zunächst abmahnen bevor er ihm kündigen kann?

  • Eine Abmahnung ist hier nicht notwendig. Es handelt sich um eine verhaltensbedingte Kündigung. Grundsätzlich ist bei dieser zunächst eine Abmahnung erforderlich, um dem Arbeitnehmer eine Chance zur Besserung zu geben. Allerdings ist eine Abmahnung ausnahmsweise entbehrlich, wenn sie ersichtlich schon keinen Erfolg verspricht. N hat seine Uneinsichtigkeit klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Laut eigener Aussage braucht G nicht darauf zu hoffen, dass er (N) sich ändern wird. Daher ist absehbar, dass auch eine Abmahnung keine Verbesserung herbeiführen wird. In einer solchen Situation wäre eine Abmahnung völlig sinnlos und ist daher auch entbehrlich für eine Kündigung.


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Handbuch zur arbeitsrechtlichen Abmahnung“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Miriam Schwartzer, Rechtsreferendarin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2017, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-80-9.


Kontakt: tilo.schindele@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2017


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Über die Autoren:

Tilo Schindele, Rechtsanwalt

Portrait Tilo-Schindele

Rechtsanwalt Tilo Schindele ist seit 20 Jahren im Arbeitsrecht tätig.
Er prüft, erstellt und verhandelt unter anderem

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Rechtsanwalt Schindele ist Dozent an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart.
Seit 2001 unterrichtet er „Grundzüge im Arbeits- und Insolvenzrecht".

Rechtsanwalt Tilo Schindele hat veröffentlicht:

  • Arbeitnehmerüberlassung, Tilo Schindele und Patricia Netto, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-55-7
  • Die internationale Entsendung von Mitarbeitern, Tilo Schindele und Babett Stoye, LL.B., 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-57-1

Rechtsanwalt Tilo Schindele bereitet derzeit folgende Veröffentlichungen vor:

  • Arbeitnehmer und Scheinselbständigkeit

Rechtsanwalt Tilo Schindele ist Dozent für Arbeitsrecht an der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.
Er bietet Schulungen, Vorträge und Seminare zum Thema:

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  • Telearbeit aus arbeitsrechtlicher, datenschutzrechtlicher und IT-rechtlicher Sicht
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