Die Änderung von Steuerbescheiden – Teil 11 – Berichtigung materieller Fehler nach § 177 AO; Vertrauensschutz nach § 176 AO

9 Berichtigung materieller Fehler nach § 177 AO

Diese Vorschrift ist keine eigenständige Korrekturvorschrift, sondern eine Rechtsgrundlage für die Berücksichtigung materieller Fehler innerhalb des durch die Anwendung von anderen eigenständigen Korrekturvorschriften entstandenen Korrekturrahmens, für die die Voraussetzungen der Änderungsvorschriften nicht vorliegen. Die Vorschrift erlaubt mithin die Mitberichtigung von materiellen Fehlern, für die keine Änderungsvorschriften erfüllt sind, wenn ein Änderungsbescheid auf Grund anderer Fehler nach den Änderungsvorschriften nach §§ 172-175 AO erlassen wurde.

Die Vorschrift bezweckt den Erlass eines Steuerbescheides über die möglichst richtige Steuer, wenn

  • über die eingeschränkten Korrekturmöglichkeiten hinaus
  • wegen Ablauf der Rechtsbehelfsfristen
  • die tatsächlich korrekte Steuer nicht mehr festgesetzt werden kann.

Dies bedeutet, dass das Finanzamt beispielsweise, wenn es einen Steuerbescheid zulässigerweise zuungunsten des Steuerpflichtigen korrigieren kann, die Korrektur eines anderen Fehlers zugunsten des Steuerpflichtigen allerdings am groben Verschulden nach § 173 I Nr. 2 AO scheitert, Änderung nach § 177 AO vornehmen kann.

Die Änderung des Steuerbescheides wegen materieller Fehler nach § 177 AO ist auch

  • bei Korrekturen nach § 129 AO wegen offenbarer Unrichtigkeiten anzuwenden oder
  • wenn der Steuerbescheid nach §§ 172 ff. AO wegen eingetretener Verjährung nicht mehr geändert werden kann.

Ein materieller Fehler nach § 177 III AO ist jede objektive Unrichtigkeit eines Steuerbescheids, die keinen selbständigen Korrekturgrund erfüllt; also jede falsche Rechtsanwendung.

Hierunter fallen beispielsweise

  • Vergünstigungen, für die ein Antrag erforderlich ist, wenn der Antrag nicht fristgerecht gestellt wurde
  • Tatsachen, die bei der Veranlagung der Steuer bereits bekannt waren
  • Rechtsirrtümer seitens des Finanzamtes
  • nachträglich bekannt gewordene Tatsachen zugunsten des Steuerpflichtigen, wenn den Steuerpflichtigen an dem Bekanntwerden grobes Verschulden trifft.

Liegen die Voraussetzungen von § 177 I AO und § 177 II AO nebeneinander vor, sind die obere und die untere Grenze der Fehlerberichtigung zu ermitteln.

Die Anwendung des § 177 AO erfolgt nach folgenden Schritten:

Im ersten Schritt sind

  • die Fehler zu ermitteln, für die die Voraussetzungen von Berichtigungsnormen erfüllt sind und
  • der jeweilige Korrekturrahmen zu bestimmen

Beispiel

Die bisher festgesetzte Einkommenssteuer beträgt 10.000 €. Wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel ist die Einkommenssteuer nach § 173 I Nr. 1 AO um 2.000 € zu erhöhen. Wegen der Änderung eines Grundlagenbescheides ist der Einkommensbescheid als Folgebescheid gem. § 175 I Nr. 1 AO um 500 € zu erhöhen. Wegen wiederstreitenden Steuerfestsetzungen ist der Steuerbescheid nach § 174 I AO um 1.000 € zu reduzieren.

  • Dies ergibt eine Korrekturrahmen mit einer Obergrenze in Höhe von 12.500 € und eine Untergrenze in Höhe von 9.000 €. Diese Beträge dürfen nicht saldiert werden.

Im zweiten Schritt sind

  • alle materiellen Fehler des § 177 AO zu ermitteln und
  • bei mehreren Fehlern zu saldieren.

Fortsetzung des Beispiels

Es bestehen weitere Betriebsausgaben in Höhe von 800 € und Betriebseinnahmen in Höhe von 1.200 €, sowie Werbungskosten in Höhe von 3.000 €, die nicht nach anderen Korrekturnormen berücksichtigt werden können.

  • Diese weiteren Positionen ergeben einen Saldo in Höhe von - 2600 €.

Im dritten Schritt

  • erfolgt die eigentliche Korrektur nach § 177 AO.

Fortsetzung des Beispiels

Zu der eigentlichen Steuer in Höhe von 10.000 € sind nach § 173 I Nr. 1 AO 2.000 € und nach § 175 I Nr. 1 AO 500 € zu addieren. Wegen § 174 I AO erfolgt eine Minderung in Höhe von 1.000 €.

  • Dies ergibt als Zwischenergebnis eine Steuer in Höhe von 11.500 €. Von diesem Betrag ist nach § 177 I AO das Saldo in Höhe von 2.600 € abzuziehen, sodass die materiell-rechtlich zutreffende Steuer 8.900 € betragen würde.

Im vierten Schritt

  • ist zu prüfen, ob die zutreffende Steuer im Bereich des errechneten Korrekturrahmens liegt. Eine Korrektur ist auf die Ober- und Untergrenze beschränkt.

Fortsetzung des Beispiels

Die tatsächliche Steuer liegt unterhalb der Untergrenze von 9.000 €.

  • Eine Änderung ist nur bis zu diesem Betrag möglich. Von den materiellen Fehlern dürfen nur 2.500 € von der ursprünglich festgesetzten Steuer abgezogen werden. Der Steuerbescheid darf auf 9.000 € abgeändert werden.

Sind die Voraussetzungen des § 177 AO erfüllt, muss das Finanzamt die Fehler mitberücksichtigen. Ihm steht kein Ermessen zu.

10 Vertrauensschutz nach § 176 AO

Die Vorschrift des § 176 AO schützt das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Gültigkeit

  • einer Rechtsnorm
  • der Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofs des Bundes oder
  • einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift (z.B. EStR)

indem eine Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheides zugunsten des Steuerpflichtigen auf Grund von diesbezüglicher Änderungen verhindert wird.

Daher ist die Vorschrift nicht auf Erstbescheide anwendbar, sondern nur auf die Bescheide, in denen die Steuerbescheide durch einen Folgebescheid geändert oder aufgehoben werden sollen.

Bei einer erstmaligen Festsetzung ist möglicherweise eine niedrigere Festsetzung der Steuern aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO zulässig, wenn die Erhebung für den Steuerpflichtigen im Einzelfall unbillig wäre (z.B. aufgrund Armut infolge einer Naturkatastrophe).

§ 176 I Nr. 2 AO gilt nicht für Rechtsprechung der Finanzgerichte und für OFD-Verfügungen. § 176 AO ist nicht abschließend, sodass Vertrauensschutz auch in Fällen gewährt werden kann, in denen § 176 I Nr. 2 AO nicht greift, sich die Rechtsprechung des Bundesfinanzgericht aber verschärft und der Steuerpflichtige im Vertrauen auf die bisherige Rechtslage Dispositionen getroffen hat.

Eine für den Steuerpflichtigen günstigere Rechtsprechung ist nur zu berücksichtigen, wenn die unanfechtbaren Bescheide noch änderbar sind, z.B. gem. § 164 AO. Die Norm gilt nicht im Einspruchsverfahren nach §§ 347 ff. AO. Daher ist eine Verböserung nach § 367 II 2 AO möglich. Im Ausnahmefall gilt darüber hinaus der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben.

11 Umsetzung von Verständigungsvereinbarungen nach § 175 a AO

§ 175 a AO ist Rechtsgrundlage für die Umsetzung einer Verständigungsvereinbarung oder eines Schiedsspruchs nach einer völkerrechtlichen Vereinbarung.[1] Sie regelt den Anwendungsvorrang völkerrechtlicher Vereinbarungen, zwischenstaatlicher Verständigungsvereinbarungen oder eines Schiedsspruchs vor den deutschen Steuergesetzen.

Ein Steuerbescheid ist nach § 175 a AO zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, wenn es für die Umsetzung einer Verständigungsvereinbarung nötig ist, ohne dass die Bestandskraft dies hindert. Der Finanzbehörde steht hierbei kein Ermessen zu, sondern sie ist zur vollständigen Umsetzung einschließlich eventueller Folgewirkungen verpflichtet. Die Festsetzungsfrist endet nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Wirksamwerden der Verständigungsvereinbarung.

Die Ablaufhemmung stellt sicher, dass die Festsetzungsverjährung (§ 169 AO) bei einer Steuerfestsetzung bzgl. eines Sachverhalts mit Auslandsbezugs nicht eintritt, solange keine Einigung über das Doppelbesteuerungsabkommen auf internationaler Ebene erzielt werden kann.

[1] Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO): Zu § 175a AO.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Die Änderung von Steuerbescheiden“ von Carola Ritterbach, Rechtsanwältin, spezialisiert auf Steuerrecht, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2016, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-46-5.


 

Weiterlesen:
zum vorhergehenden Teil des Buches
zum folgenden Teil des Buches

Links zu allen Beiträgen der Serie Buch - Steuerbescheidänderung

Kontakt: ritterbach@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2016


Wir beraten Sie gerne persönlich, telefonisch oder per Mail. Sie können uns Ihr Anliegen samt den relevanten Unterlagen gerne unverbindlich als PDF zumailen, zufaxen oder per Post zusenden. Wir schauen diese durch und setzen uns dann mit Ihnen in Verbindung, um Ihnen ein unverbindliches Angebot für ein Mandat zu unterbreiten. Ein Mandat kommt erst mit schriftlicher Mandatserteilung zustande.
Wir bitten um Ihr Verständnis: Wir können keine kostenlose Rechtsberatung erbringen.


Über die Autoren:

Carola Ritterbach, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Bank- und Kapitalmarktrecht

Portrait Carola-Ritterbach

Rechtsanwältin Carola Ritterbach absolviert derzeit den Fachanwaltskurs Steuerrecht. Sie berät Gesellschafter und Unternehmer bei der steuerlichen Gestaltung von Gesellschaften und Unternehmen. Sie begleitet Betriebsprüfungen und vertritt bei Finanzgerichtsstreitigkeiten mit dem Finanzamt oder vor Finanzgerichten.  Rechtsanwältin Ritterbach berät und vertritt bei Steuerselbstanzeigen und Steuerstrafverfahren.  Sie erstellt Unternehmensbewertungen und begleitet Unternehmenskäufe bzw. Unternehmensverkäufe aus steuerrechtlicher Sicht.
Sie berät bei der Gestaltung von Erbschaften und Schenkungen zur Vermeidung unnötiger Erbschaftssteuer und entwirft Vermögensübertragungskonzepte. 
Sie berät hinsichtlich steuerlicher Auswirkungen von Insolvenzen. Dabei prüft und beantragt sie Steuererlasse zum Zweck der Unternehmenssanierung oder für insolvente Steuerschuldner sowie die nachträgliche Aufteilung
on Steuern im Fall der Zusammenveranlagungen bei Insolvenzen einzelner Ehepartner.
Rechtsanwältin Ritterbach ist Fachanwältin für Bank- und Kapitalmarktrecht und ist seit vielen Jahren im Bereich Bankrecht tätig. Steuerliche Fragen bei Finanzierungsgeschäften treffen daher ihr besonderes Interesse.

Carola Ritterbach hat im Steuerrecht veröffentlicht:

  • Bilanzierung, Carola Ritterbach, Monika Dibbelt und Jens Bierstedt LL.M., 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-49-6
  • Steuerstrafrecht – Strafbarkeit der Organe in Unternehmen, Monika Dibbelt, Carola Ritterbach und Alexander Mayr, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-48-9
  • Die strafbefreiende Selbstanzeige, Carola Ritterbach, Monika Dibbelt und Jens Bierstedt, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-47-2
  • Besteuerung Personengesellschaften, Carola Ritterbach, Monika Dibbelt und Jens Bierstedt LL.M., 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-52-6
  • Steuerberaterhaftung, Carola Ritterbach, Monika Dibbelt und Anika Wegner, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-51-9
  • Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuerrecht: Das Recht der Erbschafts- und Schenkungssteuer. Möglichkeiten zur Verringerung der Steuerbelastung bei Erbschaften und Schenkungen, 2014, Verlag Mittelstand und Recht, ISBN 978-3-939384-16-8,
  • Die Haftung für Steuerschulden, 2015, Verlag Mittelstand und Recht, ISBN 978-3-939384-39-7

Weitere Veröffentlichungen von Rechtsanwältin Ritterbach im Steuerrecht sind in Vorbereitung, so

  • Änderung von Steuerbescheiden – Wann darf das Finanzamt einen Steuerbescheid aufheben oder korrigieren

Carola Ritternach ist Dozentin für Steuerrecht bei der DMA Deutsche Mittelstandsakademie sowie Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Steuerrecht im Deutschen Anwaltsverein.
 Sie bietet Vorträge und Seminare unter anderem zu folgenden Themen an:

  • Erbschaftssteuer und Schenkungssteuer vermeiden
  • Wahl der Gesellschaftsform unter Steuergesichtspunkten
  • Lohnsteuer- und Umsatzsteuerhaftung des Geschäftsführers
  • Mindestlohn – Worauf hat der Steuerberater zu achten
  • Die Umsatzsteuer – eine kauf- und leasingrechtliche Betrachtung
  • Die steuerliche Organschaft – Was wird wo versteuert?
  • Die Besteuerung ausländischer Einkünfte – Immobilien, Unternehmensbeteiligungen, Kapitalanlagen oder Geschäftsführergehälter

Kontaktieren Sie Rechtsanwältin Ritterbach unter:
Mail: ritterbach@brennecke-rechtsanwaelte.de
Telefon: 0721-20396-28

 

Normen: § 117 AO, § 176 AO, § 175 a AO

Mehr Beiträge zum Thema finden Sie unter:

RechtsinfosSteuerrecht