Die Änderung von Steuerbescheiden – Teil 09 – Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden wegen widerstreitende Steuerfestsetzungen nach § 174 AO

7 Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden wegen widerstreitende Steuerfestsetzungen nach § 174 AO

7.1 Allgemeines

Die Vorschrift regelt 5 verschiedene Befugnisse der Steuerbehörde, einen Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern.

Diese 5 verschiedenen Befugnisse haben alle zur Voraussetzung, dass

  • in zwei oder mehreren Steuerbescheiden
  • aus einem Sachverhalt
  • widersprüchliche steuerrechtliche Konsequenzen gezogen werden.

Unter Sachverhalt ist ein Lebenssachverhalt zu verstehen, der steuerrechtliche Wirkungen auslöst.

7.2 § 174 I AO doppelte Berücksichtigung zuungunsten des Steuerpflichtigen

Eine Änderung eines Steuerbescheides ist nach § 174 I AO möglich, wenn

  • ein bestimmter Sachverhalt
  • zuungunsten
  • eines oder mehrere Steuerpflichtigen
  • in mehreren Bescheiden berücksichtigt wurde,
  • obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen.

Dadurch entstehen steuerlich unterschiedliche, sich gegenseitig ausschließende Schlussfolgerungen. Der doppelt erfasste Sachverhalt wird "positiver Widerstreit" genannt.

Durch § 174 I AO können Vor- und Nachteile ausgeglichen werden, die durch sich widerstreitenden Festsetzungen entstanden sind.

Die Änderung erfolgt nur auf Antrag, welcher bis zum Ablauf eines Jahres, nach dem der letzte Bescheid, der den Sachverhalt erfasst hat, unanfechtbar geworden ist. Der Antrag ist formlos möglich. Er kann also auch mündlich gestellt werden. Welcher der beiden Bescheide tatsächlich fehlerhaft ist, spielt dabei keine Rolle. Einem fristgerechten Antrag kann auch dann noch entsprochen werden, wenn die Festsetzungsfrist für einen der Bescheide bereits abgelaufen ist.

Basis für § 174 I AO ist stets ein und derselbe Sachverhalt. Ein für die Vorschrift erforderlicher gleicher Sachverhalt kann beispielsweise vorliegen, wenn

  • zwei Finanzämter über denselben Steueranspruch einen Bescheid erlassen, weil sich beide für zuständig halten
  • der Sachverhalt wird bei zwei Steuerpflichtigen erfasst, obwohl sich nur für einen Konsequenzen ergeben, z.B. Einnahmen eines Ehegatten werden beim anderen zusätzlich erfasst
  • der gleiche Sachverhalt wird fälschlicherweise in zwei Veranlagungszeiträumen erfasst
  • der gleiche Sachverhalt wird für die Erhebung verschiedener Steuerarten zugrunde gelegt, obwohl sich die beiden Steuerarten ausschließen, z.B. ein und derselbe Vorgang wird als Schenkung und als Erwerb bzw. Veräußerung behandelt

Beispiel

Der Steuerpflichtige Herr Martin erhielt am 29.12.2013 die Mietzahlung für Januar 2014. Herr Martin erklärt diese Einnahme sowohl für das Jahr 2013, als auch für 2014. Beide Einkommenserklärungen wurden festgesetzt. Herr Martin bemerkte den Fehler allerdings erst im Februar 2015.

  • Ein Einspruch gegen einen der beiden Steuerbescheide ist wegen Ablauf der Einspruchsrist nicht mehr möglich. Eine Änderung nach § 173 I Nr. 2 AO ist nur möglich, wenn Herrn Martin an der doppelten Angabe kein grobes Verschulden trifft. Eine verschuldensunabhängige Änderung kann nach § 174 I AO erfolgen.

7.3 § 174 I AO analog doppelte Berücksichtigung zugunsten des Steuerpflichtigen

§ 174 I AO wird in den Fällen analog herangezogen, in denen

  • ein bestimmter Sachverhalt
  • mehrfach
  • zugunsten
  • eines oder mehrerer Steuerpflichtiger
  • berücksichtigt wurde.

Dies kann zum Beispiel

  • Sonderausgaben
  • Betriebsausgaben
  • Spenden oder
  • Werkekosten

betreffen.

Die widerstreitende Steuerfestsetzung ist auf endgültige Steuerbescheide und denen gleichgestellte anwendbar.

7.4 § 174 II AO mehrfache Berücksichtigung zugunsten des Steuerpflichtigen

Eine Änderung oder eine Aufhebung eines Steuerbescheides kann nach § 174 II AO erfolgen, wenn

  • ein bestimmter Sachverhalt
  • in unvereinbarer Weise
  • mehrfach
  • zugunsten
  • eines oder mehrerer Steuerpflichtiger
  • berücksichtigt worden ist.

Eine mehrfache Berücksichtigung „in unvereinbarer Weise“ bedeutet, dass die Mehrfachberücksichtigung materiell rechtlich unzulässig sein muss.

Die Änderung durch das Finanzamt ist nach § 174 II S. 2 AO nur möglich, wenn die Mehrfachberücksichtigung auf einen Antrag oder eine Erklärung des Steuerpflichtigen zurück zu führen ist. Die mehrfache Berücksichtigung muss in der Sphäre des Steuerpflichtigen begründet, also von ihm verursacht worden sein. Ist die Steuererklärung des Steuerpflichtigen unklar, trägt er dafür die Verantwortung.

Wurde der Sachverhalt von dem Steuerpflichtigen nicht zutreffend bzw. vollständig dargestellt, ist eine Änderung nach § 174 II AO möglich, wenn

das Finanzamt seine Ermittlungspflicht verletzt hat unddas überwiegende Verschulden beim Steuerpflichtigen liegt.[1]

Beispiel

Frau Schmidt gibt in ihrer Einkommenssteuererklärung bestimmte Ausgaben an, die im Einkommensteuerbescheid vom Finanzamt erfasst werden. Später stellt sich heraus, dass die Ausgaben richtigerweise bei der einheitlichen und gesonderten Feststellung des Gewinns ihrer Schmidt-OHG zu berücksichtigt wurden.

  • Das Finanzamt hat den zutreffenden Feststellungsbescheid zu erlassen, damit eine richtige Besteuerung hinsichtlich der Schmidt-OHG erfolgt. Die Mehrfachberücksichtigung folgt aus der Erklärung von Frau Schmidt. Der Einkommenssteuerbescheid muss auf Grund der geringeren Ausgaben geändert werden.

Die Änderung einer mehrfachen Berücksichtigung zugunsten des Steuerpflichtigen gem. § 174 II erfordert keinen Antrag, sondern erfolgt von Amts wegen. Sie ist möglich bis zum Ablauf eines Jahres, nach dem der letzte Bescheid, der den Sachverhalt erfasst hat, unanfechtbar geworden ist. Eine bereits eingetretene Festsetzungsfrist ist insoweit unbeachtlich.

7.5 § 174 III AO irrtümliche Nichtberücksichtigung

§ 174 III AO erfasst die irrtümliche Nichtberücksichtigung eines bestimmten Sachverhaltes. § 174 III regelt damit den "negativen Widerstreit".

Dies ist z.B. dann der Fall, wenn

  • ein Sachverhalt
  • in einem Steuerbescheid
  • nicht berücksichtigt worden ist,
  • weil das Finanzamt davon ausging, dass der Sachverhalt in einem anderen Bescheid zu berücksichtigen sei.

Diese falsche Annahme des Finanzamtes muss kausal für die Nichtberücksichtigung gewesen sein. Die Kausalität fehlt, wenn das Finanzamt keine Kenntnis hatte oder annahm, dass der Sachverhalt keine steuerrechtliche Bedeutung hat.

Beispiel

Das Finanzamt berücksichtigt einen Sachverhalt bei der Umsatzsteuer nicht, weil es davon ausgeht, dass der Sachverhalt bei der Gewerbesteuer zu berücksichtigen ist. Bei der Gewerbesteuer wird der Sachverhalt ebenfalls nicht berücksichtigt.

  • Das Finanzamt kann den betreffenden Bescheid, in dem sie den Sachverhalt nun zu berücksichtigen hat, nach § 174 III AO von Amts wegen ändern.

Die Nachholung, Aufhebung oder Änderung ist nur bis zum Ablauf der für die andere Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist zulässig. Ob die Festsetzungsfrist des anderen Bescheides bereits abgelaufen ist, ist unerheblich.

Entgegen dem Wortlaut des § 174 III AO "kann", steht dem Finanzamt kein Ermessen zu. Liegen die Voraussetzungen vor, muss das Finanzamt die Aufhebung oder Änderung vornehmen. Hierbei ist die Korrektur jedoch auf die nachträgliche Berücksichtigung des Sachverhalts in dem Änderungsbescheid beschränkt.

7.6 § 174 IV und V Änderung nach der Korrektur von Steuerbescheiden

Wurde ein bestimmter Sachverhalt fälschlicherweise in einem Bescheid berücksichtigt und auf Antrag des Steuerpflichtigen dieser Bescheid z.B. auf Grund eines Einspruchs oder eines Änderungsantrages nach § 164 II AO zu dessen Gunsten korrigiert, kann das Finanzamt den Sachverhalt auch zuungunsten des Steuerpflichtigen durch eine Änderung eines anderen Bescheides berücksichtigen. Auf diese Änderung, muss das Finanzamt den Steuerpflichtigen nicht hinweisen.

Die Änderung des Bescheides zuungunsten des Steuerpflichtigen hat innerhalb der Festsetzungsfrist zu erfolgen. Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden. War die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen, als der später aufgehobene oder geänderte Steuerbescheid erlassen wurde, ist eine Änderung nur möglich, wenn eine irrtümliche Nichtberücksichtigung im Sinne von § 174 III 1 AO vorliegt.

Beispiel

Ein Veräußerungsgewinn von Frau Schmidt wird nicht im Einkommenssteuerbescheid von 2012 erfasst, sondern in dem aus dem Jahre 2011. Hiergegen legt Frau Schmidt Einspruch ein.

  • Dem Einspruch wird abgeholfen, in dem bestätigt wird, dass der Veräußerungsgewinn im Jahr 2012 und nicht 2011 hätte erfasst werden müssen. Der Einkommenssteuerbescheid für 2012 kann nach § 174 IV AO geändert werden, auch wenn der Einkommensbescheid für 2011 bereits bestandskräftig ist

§ 174 V ermöglicht dem Finanzamt über § 174 IV hinaus eine Änderung gegenüber Dritten. Dem eindeutigen Wortlaut nach kommt nur eine Berichtigung zuungunsten des Dritten in Betracht. Dritter ist in diesem Sinne jemand, der an dem Verfahren beteiligt ist und durch den korrigierenden Steuerbescheid nicht als Steuerschuldner betroffen ist.

Ein Dritter ist an einem Verfahren eines Steuerpflichtigen beteiligt, wenn er

nach § 359, 360 AO hinzugezogen wurdenach §§ 57, 60 beigeladen wurdeden Antrag auf Aufhebung oder Änderung gestellt hat.

[1] Vgl. BFH-Urteil vom 22.09.1983, IV R 227/80, BStBl. II, 1984, 510.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Die Änderung von Steuerbescheiden“ von Carola Ritterbach, Rechtsanwältin, spezialisiert auf Steuerrecht, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2016, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-46-5.


 

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Kontakt: ritterbach@brennecke-rechtsanwaelte.de
Stand: Januar 2016


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Carola Ritterbach, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Bank- und Kapitalmarktrecht

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Rechtsanwältin Carola Ritterbach absolviert derzeit den Fachanwaltskurs Steuerrecht. Sie berät Gesellschafter und Unternehmer bei der steuerlichen Gestaltung von Gesellschaften und Unternehmen. Sie begleitet Betriebsprüfungen und vertritt bei Finanzgerichtsstreitigkeiten mit dem Finanzamt oder vor Finanzgerichten.  Rechtsanwältin Ritterbach berät und vertritt bei Steuerselbstanzeigen und Steuerstrafverfahren.  Sie erstellt Unternehmensbewertungen und begleitet Unternehmenskäufe bzw. Unternehmensverkäufe aus steuerrechtlicher Sicht.
Sie berät bei der Gestaltung von Erbschaften und Schenkungen zur Vermeidung unnötiger Erbschaftssteuer und entwirft Vermögensübertragungskonzepte. 
Sie berät hinsichtlich steuerlicher Auswirkungen von Insolvenzen. Dabei prüft und beantragt sie Steuererlasse zum Zweck der Unternehmenssanierung oder für insolvente Steuerschuldner sowie die nachträgliche Aufteilung
on Steuern im Fall der Zusammenveranlagungen bei Insolvenzen einzelner Ehepartner.
Rechtsanwältin Ritterbach ist Fachanwältin für Bank- und Kapitalmarktrecht und ist seit vielen Jahren im Bereich Bankrecht tätig. Steuerliche Fragen bei Finanzierungsgeschäften treffen daher ihr besonderes Interesse.

Carola Ritterbach hat im Steuerrecht veröffentlicht:

  • Bilanzierung, Carola Ritterbach, Monika Dibbelt und Jens Bierstedt LL.M., 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-49-6
  • Steuerstrafrecht – Strafbarkeit der Organe in Unternehmen, Monika Dibbelt, Carola Ritterbach und Alexander Mayr, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-48-9
  • Die strafbefreiende Selbstanzeige, Carola Ritterbach, Monika Dibbelt und Jens Bierstedt, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-47-2
  • Besteuerung Personengesellschaften, Carola Ritterbach, Monika Dibbelt und Jens Bierstedt LL.M., 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-52-6
  • Steuerberaterhaftung, Carola Ritterbach, Monika Dibbelt und Anika Wegner, 2016, Verlag Mittelstand und Recht, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-51-9
  • Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuerrecht: Das Recht der Erbschafts- und Schenkungssteuer. Möglichkeiten zur Verringerung der Steuerbelastung bei Erbschaften und Schenkungen, 2014, Verlag Mittelstand und Recht, ISBN 978-3-939384-16-8,
  • Die Haftung für Steuerschulden, 2015, Verlag Mittelstand und Recht, ISBN 978-3-939384-39-7

Weitere Veröffentlichungen von Rechtsanwältin Ritterbach im Steuerrecht sind in Vorbereitung, so

  • Änderung von Steuerbescheiden – Wann darf das Finanzamt einen Steuerbescheid aufheben oder korrigieren

Carola Ritternach ist Dozentin für Steuerrecht bei der DMA Deutsche Mittelstandsakademie sowie Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Steuerrecht im Deutschen Anwaltsverein.
 Sie bietet Vorträge und Seminare unter anderem zu folgenden Themen an:

  • Erbschaftssteuer und Schenkungssteuer vermeiden
  • Wahl der Gesellschaftsform unter Steuergesichtspunkten
  • Lohnsteuer- und Umsatzsteuerhaftung des Geschäftsführers
  • Mindestlohn – Worauf hat der Steuerberater zu achten
  • Die Umsatzsteuer – eine kauf- und leasingrechtliche Betrachtung
  • Die steuerliche Organschaft – Was wird wo versteuert?
  • Die Besteuerung ausländischer Einkünfte – Immobilien, Unternehmensbeteiligungen, Kapitalanlagen oder Geschäftsführergehälter

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