Int. Vertragsrecht - Teil 11 - Anwendbares Recht bei fehlender Rechtswahl

4.3.3 Reiner Binnensachverhalt (EU)

Ebenso wie mit reinen Inlandssachverhalten verhält es sich gem. Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO eine Stufe höher auf der Ebene des europäischen Gemeinschaftsrechts. Handelt es sich bei dem im Vertrag geregelten Sachverhalt um einen Sachverhalt, der nur Bezug zum Recht eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hat, so können die Parteien durch die Wahl der Rechtsordnung eines Nichtmitglieds nicht die Anwendung des zwingenden Europarechts umgehen.[1]

Voraussetzung dafür ist, dass alle Elemente des Sachverhalts, bspw. also der Erfüllungsort, der gewöhnliche Aufenthalt der Parteien usw., sich innerhalb eines oder mehrerer EU-Mitgliedsländer (d.h. im Binnenmarkt) befinden.[2] Insofern funktioniert Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO nach den gleichen Grundsätzen wie Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO bezüglich der reinen Inlandssachverhalte. Auf das Recht eines Nichtmitglieds kann also materiell-rechtlich verwiesen werden, dieses verdrängt aber nicht das nicht unabänderbare europäische Gemeinschaftsrecht.

In der Praxis besonders relevante zwingende Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts sind bspw. Verbraucherschutzrichtlinien und Richtlinien zum Schutz unterlegener Vertragsparteien.[3]

Beispiel[4]
Ein deutsches Unternehmen und ein italienischer Handelsvertreter vereinbaren, dass das Recht des amerikanischen Bundesstaats Kalifornien gelten soll. Abgesehen von der Rechtswahl besteht kein anderer Auslandsbezug. Im Gegensatz zum Recht Deutschlands oder Italiens besitzt der Handelsvertreter nach kalifornischem Recht im Falles seines Ausscheidens gegenüber dem Unternehmen keinen Anspruch auf Ausgleichszahlungen. Kann das Unternehmen dem Handelsvertreter nach dessen Ausscheiden eine Ausgleichszahlung verweigern?

  • Die am Vertrag beteiligten Parteien besitzen ausschließlich Bezugspunkte zu Mitgliedsstaaten der EU, nämlich Italien und Deutschland. Dass sich die Rechtswahl auf eine ausländische Rechtsordnung bezieht, ist für die Kategorisierung als Binnensachverhalt gem. Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO nicht relevant. Auf kalifornisches Recht kann somit zwar verwiesen werden, es gilt aber nur insoweit kein zwingendes europäisches Gemeinschaftsrecht existiert.
  • Nach den Vorschriften der EG-Handelsvertreter-Richtlinie Nr. 653/86 ist ein Ausgleich des Handelsvertreters im Fall seines Ausscheidens aber zwingend erforderlich. Da sich das kalifornische Recht nicht gegen diese zwingende Norm durchsetzen kann, ist seine Anwendung in diesem Punkt unwirksam. Wenn die Parteien keine davon abweichenden Abreden getroffen haben ist das anwendbare Recht daher nach Art. 4 Rom I-VO zu bestimmen. (In diesem Fall ist daher das Recht Italiens einschlägig, s. Kapitel 5)

Wichtige zwingende Vorschriften des Europarechts finden sich zudem in folgenden Richtlinien[5]:

  • Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen 93/13/EWG
  • Timesharing-Richtlinie 94/47/EG
  • Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG
  • Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 99/44/EG
  • Fernabsatzrichtlinie für Finanzdienstleistungen an Verbraucher 2002/65/EG.

All diese Vorschriften haben gemein, dass die in Ihnen beschriebenen Verbraucherrechte ausdrücklich nicht durch die Wahl des Rechts eines Nichtmitgliedsstaats abbedungen werden können.

4.3.4 Einschränkungen nach Vertragsart

Darüber hinaus bestehen aus Verbraucherschutzgründen für einige Vertragsarten besondere Einschränkungen der Rechtswahlfreiheit.[6]

Betroffen sind:

  • Personenbeförderungsverträge iSd Art. 5 Abs. 2 Rom I-VO (s. Kapitel 6.1.2)
  • Verbraucherverträge iSd Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO (s. Kapitel 6.2)
  • Versicherungsverträge über Massenrisiken iSd Art. 7 Abs. 3 Rom I-VO (s. Kapitel 6.3.4)
  • Individualarbeitsverträge iSd Art. 8 Rom I-VO (s. Kapitel 6.4).

Welchen Einschränkungen die Rechtswahl im Einzelnen unterliegt wird in den entsprechenden Kapiteln näher beleuchtet.

5 Anwendbares Recht bei fehlender Rechtswahl

5.1 Anwendbarkeit des Art. 4 Rom I-VO

Während in Art. 3 Rom I-VO geklärt wird, welches Recht anzuwenden ist, wenn die Parteien ausdrücklich oder konkludent eine Rechtswahl getroffen haben, regelt Art. 4 Rom I-VO die Fälle, in denen die Parteien dies unbewusst oder bewusst unterlassen haben. Da im Gegensatz zu Art. 3 Rom I-VO nicht an den Parteiwillen angeknüpft werden kann, definiert Art. 4 Rom I-VO objektive Umstände, an denen sich das anwendbare Recht bemisst.[7]

Wichtig: Art. 4 Rom I-VO hat den Charakter eines Auffangtatbestands.[8] Es ist also nur an die in Art. 4 Rom I-VO definierten Umstände anzuknüpfen, wenn die im Folgenden beschriebenen zwei Voraussetzungen erfüllt sind.


[1] BeckOK BGB/Spickhoff, 44. Ed. 1.11.2017, VO (EG) 593/2008 Art. 3 Rn 37.

[2] Leible/Lehmann, RIW 2008, 529 (534).

[3] Güllemann, Internationales Vertragsrecht, 2. Auflage 2014, S. 41.

[4] Anlehnung an EuGH NJW 2001, 2007.

[5] Vgl. Ringe in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Auflage 2017, Art. 3 Rom I-VO Rn 51.

[6] Güllemann, Internationales Vertragsrecht, 2. Auflage 2014, S. 42.

[7] MüKoBGB/Martiny, 7. Auflage 2018, Rom I-VO Art. 4 Rn 1.

[8] Ringe in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Auflage 2017, Art. 4 Rom I-VO Rn 2.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Internationales Vertragsrecht“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Tim Hagemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-88-5.


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Stand: Januar 2018


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Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Stuttgart

Portrait Tilo-Schindele

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Tilo Schindele ist Dozent für IT-Recht und Datenschutz bei der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.

Er bietet Seminare und Vorträge unter anderem zu folgenden Themen an:

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Normen: Art. 4 Rom I-VO

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