Int. Vertragsrecht – Teil 02 – Sachlicher Anwendungsbereich

2.2 Sachlicher Anwendungsbereich

Der sachliche Anwendungsbereich der Rom I-VO erstreckt sich gemäß Art. 1 Abs. 1 Rom I-VO auf vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen.

2.2.1 Vertragliche Schuldverhältnisse

Art. 1 Abs. 1 Rom I-VO stellt zunächst fest, dass die Verordnung nur auf Schuldverhältnisse aus Verträgen anzuwenden ist. Bei einem Schuldverhältnis handelt es sich um ein zwischen mindestens zwei Personen bestehendes Rechtsverhältnis, nach dem der eine Teil gegenüber dem anderen einen Anspruch auf eine Leistung erlangt.[1] Die Beschränkung auf vertragliche Schuldverhältnisse in Art. 1 Abs. 1 Rom I-VO dient der Abgrenzung zwischen Rom I-VO und Rom II-VO[2], die ihrerseits Kollisionsnormen für außervertragliche Schuldverhältnisse beinhaltet.[3]

Welches Rechtsverhältnis ein "vertragliches Schuldverhältnis" iSd Art. 1 Abs 1 Rom I-VO darstellt, wird von der Verordnung nicht definiert.[4] Dennoch ist die Frage, was ein "vertragliches Schuldverhältnis" von einem "außervertraglichen" unterscheidet, nicht nach den Gesichtspunkten des jeweiligen nationalen Rechts zu bewerten, sondern auf Grundlage des einheitlichen europarechtlichen Rahmens unter besonderer Beachtung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).[5] Nach dessen Ermessen liegt ein vertragliches Schuldverhältnis vor, sobald eine Partei freiwillig eine Verpflichtung gegenüber einer anderen eingeht.[6] Rechtsverhältnisse, bei denen sich die Parteien freiwillig dazu verpflichten Leistungen auszutauschen - bspw. im Rahmen eines Kaufvertrags - sind also problemlos von Art. 1 Abs. 1 Rom I-VO umfasst.[7]

Fehlt es bei einem Schuldverhältnis jedoch an der Freiwilligkeit der Parteien sich zu binden, so liegt ein außervertragliches Schuldverhältnis vor. Dies ist bspw. unstrittig der Fall, wenn es um die Folgen eines Verschuldens bei Vertragsanbahnung (culpa in contrahendo), einer unerlaubten Handlung (Delikt), einer ungerechtfertigten Bereicherung oder einer Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) geht.[8]

2.2.2 Zivil- und Handelssachen

Art. 1 Abs. 1 Rom I-VO bestimmt weiterhin, dass es sich um einen Vertrag in Zivil- oder Handelssachen handeln muss. Wie der Begriff des vertraglichen Schuldverhältnisses, so ist auch der Begriff der Handelssache nicht nach dem Recht der einzelnen Mitgliedsstaaten, sondern europarechtlich zu interpretieren.[9] An einer positiven Umschreibung der Zivil- oder Handelssache fehlt es bisher allerdings.[10] Daher bemisst sich die Abgrenzung danach, ob der Vertrag seinem Inhalt nach einen öffentlich-rechtlichen Charakter hat.[11] Das bedeutet, dass solche Schuldverhältnisse ausgenommen sind, die mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse im Zusammenhang stehen. Ausschlaggebend ist hierbei, ob ein Privater die betroffene Tätigkeit hätte ausüben können oder nicht.[12] Art. 1 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO zählt in diesem Zusammenhang beispielhaft, d.h. nicht abschließend auf, welche Gebiete nicht unter Art. 1 Abs. 1 Rom I-VO fallen, namentlich steuer-, zoll- und verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.[13]

Nicht ausschlaggebend ist, ob eine Behörde an dem Vertrag beteiligt ist.[14] Wird diese nicht-hoheitlich tätig, bspw. wenn sie neues Büromaterial bestellt, so ist die Rom I-VO auf den zugrundeliegenden Vertrag anzuwenden.[15] Ebenso wenig ausschlaggebend ist, welches Gericht für das Verfahren zuständig ist, ob das Verfahren also in die Zuständigkeit der nationalen Zivil- oder Verwaltungsgerichtsbarkeit fällt.[16]

2.2.3 Auslandsbezug

Die von Art. 1 Abs. 1 Rom I-VO geforderte Verbindung zum Recht verschiedener Staaten liegt zwar insbesondere dann vor, wenn die Vertragsparteien ihren Sitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in zwei verschiedenen Staaten haben.[17] Ausreichend ist aber bereits irgendein relevanter Auslandsbezug. Dieser liegt bspw. schon dann vor, wenn sich die Parteien bei einem reinen Inlandssachverhalt auf die Anwendung ausländischen Rechts geeinigt haben.[18] Da das Fehlen eines relevanten Auslandsbezugs nach den Regeln der Rom I-VO stets zu der Anwendung inländischem Rechts führt, bedarf es für die Praxis keiner detaillierteren Beschäftigung mit diesem Punkt.[19]

2.2.4 Ausnahmen

Selbst wenn ein Vertrag im Bereich der Zivil- und Handelssachen mit Auslandsbezug vorliegt, ist er nicht automatisch von der Rom I-VO umfasst. Art. 1 Abs. 2 Rom I-VO zählt abschließend einzelne Gebiete innerhalb der Zivil- und Handelssachen auf, die nicht in den Anwendungsbereich der Rom I-VO fallen.[20] Bei diesen handelt es sich um Rechtsverhältnisse, die trotz ihrer Bezüge zu den Zivil- und Handelssachen anderen rechtlichen Bereichen angehören oder die besonderen kollisionsrechtlichen Normen unterliegen.[21] In diesen Fällen ist das nationale Kollisionsrecht - in Deutschland also das EGBGB - einschlägig, sofern keine europarechtlichen oder durch einzelne Staatsvertrage begründeten spezielleren Kollisionsnormen greifen.[22] So gilt bspw. für Wechsel, Schecks und Eigenwechsel das in Art. 91 - 98 Wechselgesetz bzw. in Art. 60 - 66 Scheckgesetz festgelegte Kollisionsrecht.[23]

Im Einzelnen sind vom Anwendungsbereich der Rom I-VO ausgenommen:

  • Fragen des Personenstands, sowie der Rechts-, Geschäfts- und Handlungsfähigkeit natürlicher Personen (lit. a),
  • Familienrechtliche Schuldverhältnisse (lit. b),
  • Güter- und erbrechtliche Schuldverhältnisse (lit. c),
  • Verpflichtungen aus Wechseln, Schecks und anderen handelbaren Wertpapieren (lit. d),
  • Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen (lit. e),
  • Fragen zum Gesellschaftsrecht, Vereinsrecht und zum Recht juristischer Personen (lit. f),
  • Fragen der Stellvertretung (lit. g),
  • Rechtliche Fragen von Trusts (lit. h),
  • Schuldverhältnisse bei Vertragsanbahnung (lit. i; da das Schuldverhältnis vor Abschluss des Vertrags auftritt handelt es sich hierbei um ein außervertragliches Schuldverhältnis, das der
  • Rom II-VO untersteht),
  • Bestimmte Versicherungsverträge bzgl. der betrieblichen Altersvorsorge, Kranken- sowie Unfallversicherung[24] (lit. j)-

[1] Jauernig/Mansel, 16. Aufl. 2015, BGB § 241 Rn. 1.

[2] Verordnung (EG) Nr. 864/2007 vom 11. 7. 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht.

[3] Leible/Lehmann, RIW 2008, 529 (529).

[4] Prütting / Wegen / Weinreich: BGB Kommentar, 12. Auflage 2017, Art. 1 ROM I, Rn 5.

[5] Ferrari IntVertragsR/Kieninger, 3. Aufl. 2018, VO (EG) 593/2008 Art. 1 Rn. 5.

[6] HK-BGB/Ansgar Staudinger, 9. Aufl. 2017, Rom I Art. 1, Rn 3; EuGH RIW 94, 680; EuZW 02, 3159; EuZW 09, 489.

[7] Ferrari IntVertragsR/Kieninger, 3. Aufl. 2018, VO (EG) 593/2008 Art. 1 Rn. 6

[8] Leible/Lehmann, RIW 2007, 721 (723).

[9] Martiny in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, 1. Teil, Rn 1.74.

[10] Ferrari IntVertragsR/Kieninger, 3. Auflage 2018, VO (EG) 593/2008 Art. 1 Rn 3.

[11] BeckOGK/Kindler, 1.8.2017, Rom I-VO Art. 1 Rn 20.

[12] MüKoBGB/Martiny, 7. Auflage 2018, Rom I-VO Art. 1 Rn 6.

[13] HK-BGB/Ansgar Staudinger, 9. Auflage 2016, Rom I Art. 1 Rn 2.

[14] Ferrari IntVertragsR/Kieninger, 3. Auflage 2018, VO (EG) 593/2008 Art. 1 Rn 3.

[15] BeckOGK/Kindler, 1.8.2017, Rom I-VO Art. 1 Rn 20.

[16] MüKoBGB/Martiny, 7. Auflage 2018, Rom I-VO Art. 1 Rn 6.

[17] Martiny in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, 1. Teil, Rn 1.67.

[18] BeckOK BGB/Spickhoff, 44. Ed. 1.11.2017, VO (EG) 593/2008 Art. 1 Rn. 33

[19] BeckOK BGB/Spickhoff, 44. Ed. 1.11.2017, VO (EG) 593/2008 Art. 1 Rn. 33

[20] Leible/Lehmann, RIW 2008, 529 (530).

[21] Martiny in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Auflage. 2015, 1. Teil, Rn 1.80.

[22] Martiny in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Auflage. 2015, 1. Teil, Rn 1.81.

[23] Martiny in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Auflage. 2015, 1. Teil, Rn 1.81.

[24] Vgl. Art. 2 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002.

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Internationales Vertragsrecht“ von Tilo Schindele, Rechtsanwalt, und Tim Hagemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter, erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2018, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-88-5.


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Stand: Januar 2018


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Tilo Schindele, Rechtsanwalt, Stuttgart

Portrait Tilo-Schindele

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Tilo Schindele ist Dozent für IT-Recht und Datenschutz bei der DMA Deutsche Mittelstandsakademie.

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