Arbeitnehmerüberlassung – Teil 14 – Gesamtbetrachtung, Vorrangigkeit der Arbeitnehmerüberlassung

4.1.1.7 Gesamtbetrachtung

Zur Bestimmung der Vertragsnatur helfen einzelnen Abgrenzungskriterien alleine nicht weiter. Eine eindeutige Bestimmung der Arbeitnehmerüberlassung in Abgrenzung zum Werkvertrag kann nur unter Würdigung aller Abgrenzungskriterien vorgenommen werden. Nach der Geschäftsanweisung der Bundesagentur für Arbeit (Stand: Februar 2014) darf bei der Abgrenzung nicht schematisch vorgegangen werden. Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung aller für die rechtliche Einordnung der Vertragsbeziehungen wesentlichen Umstände. Die Betrachtung der einzelnen Abgrenzungskriterien separat, erbringt kein vernünftiges Ergebnis. Mit Hilfe der wertenden Gesamtbetrachtung kann entschieden werden, ob zwischen den Vertragsparteien eine Arbeitnehmerüberlassung oder ein Werkvertrag vorliegt.
Zu Grunde gelegt wird der objektive Vertragsinhalt. Weicht die tatsächliche Durchführung von der Abrede der Vertragsparteien ab, ist die tatsächliche Durchführung vorrangig zu beachten. Aus der tatsächlichen Durchführung des Vertrags und der praktischen Handhabung lassen sich Rückschlüsse auf den Willen der Vertragsparteien ziehen. Die von den Parteien gewählte Bezeichnung des Vertrags ist unerheblich.

Beispiel 1
Der Schlosserei Stahl GmbH wurde von dem Fahrradfabrikanten Rundes Rad AG beauftragt, Fahrradrahmen in den Fabrikräumen der Rundes Rad AG zusammen zu schweißen. Der Geschäftsführer der Rundes Rad AG erteilt dem Erfüllungsgehilfen der Schlosserei Stahl GmbH während der Schweißarbeiten immer wieder arbeitsvertragliche Weisungen. Ferner ist der Erfüllungsgehilfe in dem Betrieb der Rundes Rad AG vollständig eingegliedert und nutzt deren Arbeitsräume und -mittel.

  • Nach der tatsächlichen Durchführung des Vertrags liegt eine Arbeitnehmerüberlassung vor. Die Kriterien lassen vermuten, dass eine bewusste Umgehung vorliegt und tatsächlich eine Arbeitnehmerüberlassung ausgeübt wird. Da der Schlosserbetrieb Stahl GmbH keine Überlassungserlaubnis hat, besteht eine illegale Arbeitnehmerüberlassung nach § 1 I 1 AÜG.

Bei langfristigen Vertragsbeziehungen kann nur eine Betrachtung der über einen längeren Zeitraum hinweg geübten Vertragspraxis zuverlässig Aufschluss darüber geben, welche Vertragsform vorliegt. Besonders zu berücksichtigen ist dabei, dass eine Arbeitnehmerüberlassung nach § 1 I 2 AÜG nur vorrübergehend erfolgen darf. Ein Werkvertrag unterliegt keiner vertraglichen Höchstdauer.

4.1.1.8 Vorrangigkeit der Arbeitnehmerüberlassung

Besteht Uneinigkeit darüber, welches Vertragsverhältnis zwischen den Vertragsparteien tatsächlich vorliegt, kann der Sinn und Zweck des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes dazu führen, dass vorrangig eine Arbeitnehmerüberlassung vorliegt.

Die Arbeitnehmerüberlassung ist ein sog. prekäres Arbeitsverhältnis, das einen gesonderten gesetzlichen Schutz bedarf. Meist wird von den Leiharbeitnehmern ein besonders hohes Maß an Flexibilität verlangt. Der Einsatz in einem Betrieb dauert meist nur wenige Wochen. Der Leiharbeiter muss sich ständig auf ein neues betriebliches Umfeld einlassen und neu einarbeiten. Je nachdem muss er sogar örtliche Veränderungen in Kauf nehmen. Aufgrund des ständigen Wechsels ist es für den Leiharbeiter nicht möglich, Karrierechancen zu erarbeiten oder sich in Gewerkschaften zu beteiligen. Das AÜG begründet u.a. mit der Unzulässigkeit von Übernahmeverboten und dem Equal-pay und dem Equal-treatment-Grundsatz einen gesetzlichen Schutz, um dem Lohnrisiko zu begegnen. Mit dem Gleichstellungsgebot will das AÜG angemessene Arbeitsbedingungen für den Leiharbeiter sicherstellen. Ferner erlaubt das AÜG nur eine vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung, die verhindern soll, dass Dauerarbeitsplätzen durch den Einsatz von Leiharbeitern ersetzt werden.

Die Arbeitnehmerüberlassung verfolgt mit ihrem Sinn und Zweck somit andere Grundsätze als ein Werkvertrag. Beide Vertragsformen stehen zueinander in einem gegenseitigen Ausschlussverhältnis. Der besondere Schutzzweck des AÜG findet beim Werkvertrag keine Anwendung. Aus diesem Grund kann es geboten sein, dem AÜG Vorrang zu gewähren, um den Schutzvorschriften entsprechende Bedeutung beimessen zu können.

Das AÜG verhindert, dass ungeeignete Verleiher Leiharbeitnehmer an Dritter überlassen. Die Abgrenzungsfälle sind besonders problematisch, wenn ein ungeeigneter Verleiher das AÜG bewusst umgeht, indem er mit dem Entleiher einen Werkvertrag vereinbart, obwohl eigentlich eine Arbeitnehmerüberlassung vorliegt. Mithilfe der Gesamtbetrachtung aller Abgrenzungskriterien kann unter Umständen im Einzelfall eine eindeutige Abgrenzung nicht vorgenommen werden. Die bewusste Umgehung erfolgt aber zulasten des Leiharbeitnehmers, der ggf. ohne es zu wissen, mit einem ungeeigneten Verleiher einen Arbeitsvertrag abgeschlossen hat. Ihm sollte der Schutz des AÜG gerade zukommen. Nur so erhält der Leiharbeitnehmer den besonderen Schutz.
Eine Abgrenzung allein aufgrund der charakteristischen Merkmale würde damit dem Schutzzweck des AÜG zuwiderlaufen.
Kann eine Abgrenzung also nicht eindeutig vorgenommen werden, ist vorrangig eine Arbeitnehmerüberlassung anzunehmen.


Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Arbeitnehmerüberlassung“ von Tilo Schindele, auf Arbeitsrecht spezialisierter Rechtsanwalt, und Patricia Netto, wissenschaftliche Mitarbeiterin, mit Fußnoten erschienen im Verlag Mittelstand und Recht, 2016, www.vmur.de, ISBN 978-3-939384-55-7.


 

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Stand: Januar 2016


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